đ https://www.goodreads.com/book/show/125083585-baustellen-der-nation
Vorwort
GrundsÀtzliche Positionen der Autoren
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Der Staat muss eine aktivere Rolle ĂŒbernehmen als bisher
DafĂŒr braucht es ein neues VerstĂ€ndnis staatlichen Handelns. Es gehört zum Grundkonsens der sozialen Marktwirtschaft, dass der Staat einen Rahmen setzt, in dem BĂŒrger:innen und Unternehmen ihre KrĂ€fte zum Wohlstand aller entfalten können. Doch dieser Rahmen muss neu justiert werden. Um dem Handeln von Menschen und Unternehmen eine neue Richtung zu geben, muss der Staat eine aktivere Rolle ĂŒbernehmen als bisher.
Das Land der bröselnden BrĂŒcken
Die Infrastrukturkrise in Deutschland
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AusmaĂ der Probleme
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Symbolisches Beispiel: Die Rahmede-TalbrĂŒcke musste 2023 gesprengt werden
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Riesiger InvestitionsrĂŒckstand:
Auch die lassen sich mit einem Preisschild versehen: mindestens 457 Milliarden Euro â rund ein kompletter Bundeshaushalt. So viel mĂŒssten wir in den nĂ€chsten zehn Jahren investieren, schĂ€tzten bereits 2020 das gewerkschaftsnahe Institut fĂŒr Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und das eher wirtschaftsliberale Institut der Deutschen Wirtschaft (IW).
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Verantwortlichkeiten
FĂŒr die staatliche Infrastruktur sind verschiedene föderale Ebenen verantwortlich: Kommunen betreiben und bezahlen beispielsweise SchwimmbĂ€der und Parks; LĂ€nder sind zustĂ€ndig fĂŒr Polizei und KrankenhĂ€user; der Bund plant, baut und bezahlt unter anderem die Autobahnen sowie viele WasserstraĂen, BrĂŒcken und Bahngleise.
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Kommunale InvestitionsrĂŒckstĂ€nde
Der so ermittelte InvestitionsrĂŒckstand summierte sich schon 2009 auf 84 Milliarden Euro. Bis 2022 verdoppelte sich das Minus auf mehr als 165 Milliarden Euro â und das sind nur die nötigen, aber mangels Haushaltsmittel verschobenen Investitionen auf Ebene der Kommunen, also ohne die LĂ€nder und den Bund. Am meisten mĂŒsste nach dem Kommunalpanel 2023 in Schulen investiert werden, denn hier schlummern fast 29 Prozent der kommunalen Infrastrukturschulden. StraĂen brĂ€uchten knapp ein Viertel der Summe, in VerwaltungsgebĂ€ude mĂŒssten gut zwölf Prozent der mehr als 165 Milliarden Euro flieĂen. Und diese Defizite nehmen Jahr fĂŒr Jahr zu, weil dauerhaft viel weniger Geld vorhanden ist, als notwendig wĂ€re.
Ursachen der Infrastrukturkrise
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Politische Faktoren
- Kurzfristdenken im politischen System: Kosten fallen sofort an, Nutzen kommt spÀter
- Aufmerksamkeitsökonomie: Infrastrukturthemen erzeugen weniger öffentliches Interesse als Steuern oder Sozialleistungen
- Demografischer Wandel: Fast 60% der Wahlberechtigten sind ĂŒber 50 Jahre alt
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Finanzielle Faktoren
- Chronisch unterfinanzierte Kommunen
- Teufelskreis: Klamme Kommunen sparen an Personal, was zu schlechterer Planung fĂŒhrt, was zu höheren Kosten fĂŒhrt
- Investitionen zum falschen Zeitpunkt (bei Hochkonjunktur statt antizyklisch)
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Die Schuldenbremse und Schwarze Null
Der politische Diskurs in Deutschland wurde spĂ€testens seit den 1990er-Jahren von der Vorstellung bestimmt, dass Staatsschulden generell von Ăbel seien und zumindest gedeckelt, wenn nicht ganz eliminiert werden mĂŒssten. Aus diesem Gedanken wurde die sogenannte »Schuldenbremse« geboren, die schlieĂlich 2011 ins Grundgesetz (GG) aufgenommen wurde. Artikel 109 GG schreibt seitdem verbindlich vor, dass der Bund â von engen Ausnahmen abgesehen â pro Jahr nicht mehr als 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an neuen Schulden aufnehmen darf. Wenn die Steuereinnahmen also in einem Jahr voraussichtlich nicht reichen, um alle geplanten Projekte zu bezahlen, darf der Bund sich zwar Geld leihen, aber nicht mehr als 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, also des Gesamtwerts aller Waren und Dienstleistungen, die die deutsche Volkswirtschaft zuletzt im Jahr produziert hat.
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Die Schuldenbremse ist nicht die alleinige Ursache, verschÀrft aber das Problem
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KTF-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.) (2023) verschÀrft die Finanzierungsprobleme massiv
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Fehlen einer sinnvollen Unterscheidung zwischen konsumtiven und investiven Schulden
LösungsansÀtze
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Mehr Transparenz
- RegelmĂ€Ăige standardisierte Berichte zum Zustand der Infrastruktur
- Bessere Informationsgrundlage fĂŒr politische Entscheidungen
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Strukturreformen
- Investitionsfördergesellschaften nach dem Vorbild der DFG
- Verstetigung von Infrastrukturinvestitionen unabhÀngig von der Konjunktur
- Entschuldung der Kommunen nach dem Vorbild der âHessenkasseâ
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Verfahrensbeschleunigung
- Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren
- FrĂŒhe BĂŒrgerbeteiligung statt langwieriger Klageverfahren
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Neues Denken ĂŒber Generationengerechtigkeit
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Schulden fĂŒr Infrastruktur als Investition in die Zukunft
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Gerechte Verteilung der Finanzierungslast auf alle Generationen
Wenn der Förster den Admin macht
Die Digitalisierungskrise der deutschen Verwaltung
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Deutschland im internationalen Vergleich
In der Disziplin Digitalisierung spielt die deutsche Verwaltung mittlerweile in einer eigenen Liga. LĂ€nder wie DĂ€nemark, Estland, Finnland und die Ukraine sind Deutschland teils 20 Jahre voraus. In einigen dieser LĂ€nder bekommen Eltern automatisch eine Push-Nachricht mit dem Vorschlag fĂŒr einen Kitaplatz, wenn ihr Kind alt genug ist. Elterngeld kommt ohne Antrag, weil der Staat weiĂ, wie alt das Kind ist und auf welche Leistungen die Eltern Anrecht haben. ImmobilienkĂ€ufe, die sich in Deutschland ĂŒber Monate hinziehen, weil Behörden einander Papier zuschicken, wickeln DĂ€nen in wenigen Tagen ab â Unterschrift per Smartphone inklusive. Hierzulande mĂŒssen die meisten Verwaltungsleistungen dagegen von den BĂŒrger:innen aktiv beantragt und mit Papierformularen und x zusĂ€tzlich ausgedruckten Nachweisen und Bescheinigungen eingereicht werden. FĂŒr Privatleute wie fĂŒr Unternehmen ist Behördenkontakt oft nicht hilfreich, sondern ein unberechenbarer Faktor, der AktivitĂ€ten bremsen und PlĂ€ne zerstören kann. UmstĂ€ndlich, ineffizient, frustrierend.
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Anschauliches Beispiel zur Papierlast
Miriam Teige, Pressesprecherin eines Energieversorgungsunternehmens, twitterte einmal ein Foto mit den Genehmigungsunterlagen, die fĂŒr drei WindrĂ€der benötigt werden. Alle Dokumente fĂŒr das komplexe Verfahren (mehr dazu im Kapitel ĂŒber Windkraft) mĂŒssen ausgedruckt eingereicht werden. Auf dem Foto sind 60 Ordner zu sehen. 36 000 Blatt. FĂŒr drei Windkraftanlagen. Zur Behörde gelangt der Antrag mit einem gemieteten Transporter, in 15 Umzugskartons. Um die Energiewende zu schaffen, mĂŒssen Tausende neue WindrĂ€der beantragt werden. Papier scheint da nicht das richtige Medium.
Kernprobleme der Verwaltungsdigitalisierung
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Strukturelle Probleme
- Komplexe föderale Strukturen mit 16 BundeslĂ€ndern und ĂŒber 11.000 Kommunen
- Unklare ZustÀndigkeiten und fehlende zentrale Steuerung
- âDer Förster macht den Adminâ - IT-Verantwortung bei fachfremdem Personal
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Technische Probleme
- Veraltete IT-Infrastruktur und mangelnde Software-Integration
- Fehlende KompatibilitÀt zwischen verschiedenen Systemen
- Fehlende einheitliche Standards und Schnittstellen
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Personelle Defizite
- IT-FachkrÀftemangel im öffentlichen Dienst
- Unattraktive Arbeitsbedingungen fĂŒr digital affine FachkrĂ€fte
- Fehlende Digitalkompetenzen bei FĂŒhrungskrĂ€ften
LösungsansÀtze
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Einheitliche Standards und Steuerung
Der Bund auf der anderen Seite könnte Anbietern sagen: Wenn ihr Software ĂŒber diesen App Store an Verwaltungen verkaufen wollt, mĂŒsst ihr bestimmte Bedingungen einhalten: Ihr nutzt zumindest auch unser Payment-System, unser ID-System und unterstĂŒtzt folgende Liste an Standards â sonst kommt ihr hier nicht rein.
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Registermodernisierung
- Vernetzung vorhandener DatenbestÀnde
- Konsequente Umsetzung des Once-Only-Prinzips (Daten nur einmal erfassen)
- Einheitliche digitale IdentitĂ€t fĂŒr alle BĂŒrger
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Kulturwandel in der Verwaltung
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Förderung digital-affiner FĂŒhrungskrĂ€fte
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Nutzerorientiertes Denken statt Betonung von ZustÀndigkeiten
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Attraktive IT-Dienstleister in öffentlicher Hand
Die Baustelle Deutsche Bahn
Der Niedergang des Schienennetzes
Drastischer RĂŒckbau des Netzes
Das Netzwerk EuropĂ€ischer Eisenbahnen (NEE) liefert die Zahlen, die die brutale Schrumpfkur bei der Bahn greifbar werden lassen: Die Deutsche Bahn hat seit der Bahnreform Mitte der 1990er-Jahre bis 2018 immerhin 5400 Kilometer und damit 16 Prozent ihrer Schienen stillgelegt, sodass ihr Schienennetz nur noch gut 33 000 Kilometer umfasst. Jeder verlorene Kilometer Schiene hĂ€ngt Menschen und Unternehmen von der Bahn ab oder fehlt als Ausweichstrecke, wenn eine Hauptstrecke blockiert ist. Von 2018 bis 2021 seien nur 67 Kilometer Schiene neu in Betrieb genommen worden, bilanziert das NEE 2021. Zum Vergleich: »Der Zubau von StraĂen betrĂ€gt deutschlandweit (âŠ) jĂ€hrlich rund 10 000 Kilometer.
Falsche PrioritÀten und Fehlanreize
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Prestigeprojekte statt Sanierung
Wenn nicht alle Projekte der Bahn in der GröĂenordnung von Stuttgart 21 scheitern: Das Unternehmen versenkt regelmĂ€Ăig Hunderte Millionen Euro in fragwĂŒrdigen Prestigebauten. Warum widmet sich die Bahn ĂŒberhaupt so gerne neuen GroĂprojekten, anstatt vorhandene Infrastruktur zu sanieren oder zu erweitern? Ursache sind mal wieder falsch gesetzte Anreize: Die Bahn setzt auf Neubau statt auf Sanierung, weil das fĂŒr sie billiger ist. Sanierungen bestehender Infrastruktur mĂŒssen nĂ€mlich aus den Budgets der Bahn bezahlt werden. Neubauten dagegen zahlt der Bund, also der Steuerzahler.
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Perverse Anreizsysteme
Noch Fragen? Vielleicht: Warum hat die FĂŒhrung der ewig verschuldeten Bahn eine so groĂe Vorliebe fĂŒr sehr, sehr teure Projekte? Gleiche Antwort: Weil die nicht die Deutsche Bahn bezahlt, sondern der Bund. Noch Ă€rger: Die DB konnte ĂŒber Jahre hinweg sogar noch 18 Prozent Pauschale fĂŒr Projektplanung abgreifen. Mit anderen Worten: Je mehr fremdes Geld, nĂ€mlich Geld des Bundes, die Bahn in Neubauten versenkte, desto mehr eigenes Geld bekam die Bahn vom Bund in Form der Planungskostenpauschale. Das wurde 2018 zwar abgeschafft, erklĂ€rt aber, warum viele Jahre lang sehenden Auges so viel Geld in Megaprojekten verbraten wurde, das viel sinnvoller hĂ€tte investiert werden können.
Ungleiche Wettbewerbsbedingungen mit dem Flugverkehr
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Steuerliche Bevorzugung des Flugverkehrs
Trotzdem ist Fliegen billiger. Warum? Weil die Rahmenbedingungen fĂŒr die beiden Reisearten extrem unterschiedlich und die Lasten ungerecht verteilt sind. In erster Linie wird Fliegen enorm subventioniert. Flugzeuge können fast ĂŒberall steuerfrei tanken, weil auf Kerosin keine Abgaben erhoben werden. In Deutschland ist das im Energiesteuergesetz verankert, auf internationaler Ebene ergibt es sich aus den Regeln der UN-Organisation fĂŒr zivile Luftfahrt namens ICAO.
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Ungleiche Besteuerung
Doch nicht nur beim Treibstoff wird der Bahnverkehr in Deutschland gegenĂŒber dem Flugverkehr steuerlich extrem benachteiligt. Die Bahn muss auch auf alle verkauften Tickets eine Umsatzsteuer von sieben Prozent abfĂŒhren. Das ist zwar der ermĂ€Ăigte Satz, er muss aber trotzdem in die Fahrkarten eingepreist werden und macht sie teurer. Im Gegensatz dazu sind Flugreisen zu groĂen Teilen völlig von der Umsatzsteuer befreit. Lediglich auf Tickets fĂŒr InlandsflĂŒge werden 19 Prozent fĂ€llig. InlandsflĂŒge sind aber nur fĂŒr einen Bruchteil der Emissionen verantwortlich. FlĂŒge ins Ausland dagegen sind laut Ăko-Institut fĂŒr ungefĂ€hr 94 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich, die der Luftverkehr in Deutschland verursacht.
Die Windkraft-Baustelle
Windkraftausbau als alternativlose Lösung
âWindenergie ist das RĂŒckgrat der Energiewende. Ohne Windenergie geht nichts. Aber bei der Windenergie geht zu wenig.â
Die klimaneutrale Transformation der Energieversorgung
Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden. Dies erfordert einen massiven Umstieg auf erneuerbare Energien, vor allem auf Wind- und Solarenergie. Das Klimaziel fĂŒr 2030 sieht vor, dass mindestens 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen sollen.
Die Bedeutung des Stroms als zentrale Energiequelle wird deutlich betont:
âStrom ist so wichtig, weil er in einer nachhaltigen Welt der zentrale EnergietrĂ€ger sein wird. Vieles, was bislang durch Ăl und Gas befeuert wird, muss auf elektrische Energie umgestellt werden: Autos und Heizungen ebenso wie die Herstellung von Stahl und Zement.â
Aktuelle Lage und Herausforderungen
Aktuell stammt erst knapp die HĂ€lfte des deutschen Stroms aus erneuerbaren Quellen - ein Ergebnis, fĂŒr das 20 Jahre gebraucht wurden. Die Autoren betonen die Dringlichkeit des Ausbaus:
âDafĂŒr mĂŒssten im Schnitt jeden Tag 5,8 neue WindrĂ€der aufgestellt werden. Die Merkel-Regierungen haben den Ausbau der Windenergie schlicht abgewĂŒrgt, weil er angeblich zu teuer war. Deswegen mĂŒssen wir jetzt schneller ausbauen als je zuvor. Und zwar am besten seit gestern.â
WĂ€hrend der Solarausbau vergleichsweise gut lĂ€uft, hinkt die Windkraft hinterher. Statt der von Bundeskanzler Scholz geforderten vier bis fĂŒnf WindrĂ€der pro Tag werden aktuell nur etwa zwei tĂ€glich gebaut.
Verzögerungsfaktoren beim Windkraftausbau
Die Autoren identifizieren nach umfangreichen Recherchen und GesprĂ€chen mit Beteiligten die HauptgrĂŒnde fĂŒr den schleppenden Ausbau:
âDie bottom line: Der Gesetzgeber und die Verwaltungen haben es viel zu kompliziert gemacht, ein Windrad zu bauen. Oder ausfĂŒhrlicher: Der Ausbau der Windkraft in Deutschland geht nicht schnell genug voran, weil die Anforderungen zu hoch und die Genehmigungsverfahren zu komplex sind.â
Langwierige Genehmigungsverfahren
Die Genehmigungsverfahren verzögern den Windkraftausbau dramatisch:
âIm Schnitt dauerte es nach Recherchen der Tagesschau 2022 sieben Jahre, bis ein Windrad stand und Strom lieferte.â
Diese langen Verfahrenszeiten entstehen durch komplexe Genehmigungsprozesse nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, bei denen eine Vielzahl von Rechtsfragen aus verschiedenen Bereichen geklĂ€rt werden mĂŒssen. Besonders leistungsstarke moderne Windkraftanlagen mit ĂŒber 50 Metern Höhe benötigen umfangreiche PrĂŒfungen.
Das BĂŒrokratiemonster zĂ€hmen
Die Autoren beschreiben die vielfĂ€ltigen PrĂŒfungen, die ein Windkraftprojekt durchlaufen muss:
âHier eine kleine Auswahl an Fragen, die zu erörtern sind: Macht die Anlage zu viel LĂ€rm? Wirft sie unerlaubt viel Schatten? HĂ€lt sie genug Abstand zur nĂ€chsten Wohnbebauung? [âŠ] AuĂerdem Avifaunistik, also der Einfluss auf das Flugverhalten von Vögeln und FledermĂ€usen sowie der Artenschutz, also der Einfluss auf das Gedeihen von Flora und Fauna.â
Kompliziert wird es durch die Trennung des Baurechts in Bauordnungsrecht (Landesrecht) und Bauplanungsrecht (Bundesrecht). Auch die Raumplanung mit ihren langwierigen Verfahren stellt ein erhebliches Hindernis dar. Besonders deutlich wird dies am Beispiel Brandenburg, wo jahrelang vier von fĂŒnf Regionen keinen gĂŒltigen Regionalplan hatten, was zu einem zweijĂ€hrigen Genehmigungsstopp fĂŒhrte.
Besondere Barrieren fĂŒr die Windkraft
Abstandsregeln als Hauptproblem
Die Autoren identifizieren die Abstandsregeln als besonders problematisch:
âNeben diesen bĂŒrokratischen HĂŒrden bremst den Windkraftausbau vor allem die Abstandsregel. Die ist das weitaus gröĂte Problem beim Bau neuer Windkraftanlagen.â
Besonders die bayerische 10H-Regel wird kritisiert:
âDas bedeutet: WindrĂ€der mussten einen Abstand vom Zehnfachen ihrer Höhe zum nĂ€chsten WohngebĂ€ude haben. Bei einem Windrad von 200 Metern Höhe bedeutet das einen Mindestabstand von 2 Kilometern. Das hat dazu gefĂŒhrt, dass in Bayern lange so gut wie keine WindrĂ€der mehr gebaut wurden.â
NIMBY-Politik: Not In My Backyard
Die Autoren analysieren die psychologischen und politischen HintergrĂŒnde des Widerstands:
âJa, wir brauchen viel mehr WindrĂ€der, die gĂŒnstigen Strom produzieren. Das ist den meisten Menschen klar. Aber das ist ein bundesweites Ziel: Wir brauchen deutschlandweit und insgesamt Tausende WindrĂ€der. Das heiĂt jedoch nicht zugleich, dass Menschen die dringend benötigten Windkraftanlagen auch in der NĂ€he ihres Dorfs akzeptieren wollen.â
Diese Haltung fĂŒhrt zu einem klassischen âTrittbrettfahrerproblemâ:
âWenn alle zwar abstrakt fĂŒr Windkraft sind, aber gegen WindrĂ€der vor Ort, werden kaum noch Anlagen gebaut. Und genau das erleben wir bisher.â
Artenschutz als Stolperstein
Die Autoren beschreiben anschaulich, wie aufwĂ€ndig die NaturschutzprĂŒfungen sind:
âAllein das Erstellen des Gutachtens fĂŒr Avifaunistik kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. DafĂŒr stiefeln am geplanten Standort nĂ€mlich Expert:innen buchstĂ€blich mit Fernglas und iPad mindestens ein halbes Jahr regelmĂ€Ăig durch Wald und Wiesen.â
Sie kritisieren den ĂŒbertriebenen Fokus auf den Schutz einzelner Tiere:
âDarum kann immer noch ein einzelner Schwarzstorch oder auch Herrn MĂŒllers KĂ€uzchen die Planung eines Windparks auf Jahre hinaus ausbremsen.â
Klagevereine und Verwaltungsverfahren als Bremse
Organisierte Klagevereine
Ein weiteres Hindernis sind organisierte Klagevereine:
âInteressanterweise kommen die meisten Klagen dabei nicht von besorgten Anwohner:innen aus der Umgebung, sondern von professionell organisierten Vereinen mit klarer politischer Agenda.â
Die Autoren nennen konkrete Beispiele wie den VLAB (Verein fĂŒr Landschaftspflege, Artenschutz & BiodiversitĂ€t e.V.), der trotz angeblicher UnterstĂŒtzung der Energiewende den âmaĂlosen Windkraftausbauâ kritisiert und hauptsĂ€chlich Ă€sthetische EinwĂ€nde gegen WindrĂ€der vorbringt.
Langsame Verwaltungsverfahren
Personalmangel und komplizierte VerwaltungsablĂ€ufe fĂŒhren zu extremen Verzögerungen:
âIn Hessen, mit durchschnittlich 34 Monaten vom Antrag bis zur Behördenentscheidung Schlusslicht beim Genehmigungstempo, waren es zuletzt fast 300â AntrĂ€ge in der Warteschleife.
âNeben dem Personalmangel sind es die extrem komplizierten, störungsanfĂ€lligen und arbeitsintensiven AblĂ€ufe, mit denen die zustĂ€ndigen Sachbearbeiter:innen andere mitwirkende Behörden zur Mitarbeit bewegen mĂŒssen und dabei oft scheitern.â
LösungsansĂ€tze fĂŒr den beschleunigten Ausbau
Wind-an-Land-Gesetz: Hoffnungsschimmer
Die Autoren sehen im neuen Wind-an-Land-Gesetz einen wichtigen Fortschritt:
âDie Ampel hat nun einen Kompromiss als Gesetz verabschiedet: Die LĂ€nder mĂŒssen im Schnitt zwei Prozent ihrer LandflĂ€chen der Windkraft widmen. Tun sie das nicht rechtzeitig, werden die MindestabstĂ€nde abgeschafft.â
Kritisch sehen sie jedoch den Zeitplan:
âDer Haken: Um die zwei Prozent bereitzustellen, haben die LĂ€nder Zeit bis Ende 2032, erste Zwischenziele sind bis Ende 2027 zu erreichen. Das ist viel zu lange, sagen Kritiker.â
Dennoch zeigt sich bereits Bewegung: Nach einer Umfrage des Spiegel wollte im MĂ€rz 2023 jedes zweite Bundesland die FlĂ€chenziele frĂŒher erreichen.
Genehmigungsfiktionen: Schweigen sollte Ja bedeuten
Die Autoren schlagen vor, die âGenehmigungsfiktionâ auf die Windkraftgenehmigung anzuwenden:
âDas bedeutet: Wenn eine angefragte Stelle nicht in einem angemessenen Zeitraum von beispielsweise drei Monaten antwortet, gilt ihr Schweigen als Zustimmung.â
Dies wĂŒrde behördliche Verschleppungstaktiken erschweren:
âDann wĂ€ren Behörden gezwungen, wichtige FĂ€lle vorzuziehen, anstatt sie einfach auszusitzen. Debatten wĂŒrde es nur noch geben, wo es wirklich etwas zu debattieren gibt.â
GestĂ€rkte BĂŒrgerbeteiligung und finanzielle Teilhabe
Die Autoren erlÀutern, dass der Stadt-Land-Konflikt ein wichtiger Faktor beim Windkraft-Widerstand ist:
âAuf dem Land bringen Windkraftgegner:innen die Bevölkerung mit dem Argument gegen WindrĂ€der auf, der Horizont werde vor allem »verspargelt«, damit StĂ€dter:innen ihre E-Autos laden können.â
Als Lösung wird die finanzielle Beteiligung der lokalen Bevölkerung vorgeschlagen:
âDie zentrale Frage in solchen Debatten sei: »Was bringt uns das?« Die ĂŒberzeugendste Antwort in solchen FĂ€llen: Ihr verdient mit. [âŠ] Nichts steigere die Akzeptanz so sehr, sagt Beraterin Anna Forke, wie eine Gewinnbeteiligung der Kommune.â
Als positives Beispiel wird der HunsrĂŒck genannt:
âIm Dorf Neuerkirch etwa entstand mithilfe der Pachteinnahmen ein Sport- und Fitnesspark, und die BĂŒrger:innen können sich kostenlos E-Autos sowie Lasten- und ElektrorĂ€der ausleihen.â
Wirtschaftliche Perspektiven und Fazit
Windkraft als Wirtschafsmotor
Die Autoren beschreiben weitere wirtschaftliche Vorteile fĂŒr Windkraftregionen:
âImmer mehr Wirtschaftsbetriebe siedeln sich gezielt in Regionen an, wo sie durch nahe gelegene Windparks gĂŒnstig grĂŒne Energie bekommen. Vom Batteriehersteller Northvolt in Schleswig-Holstein bis zu den Chipgiganten Intel und TSMC â alle haben sich fĂŒr ihre jeweiligen Standorte in Deutschland entschieden, weil dort ausreichend Ăkostrom zu haben ist.â
Auch indirekte Vorteile werden genannt: verbesserte digitale Infrastruktur, lokale Wertschöpfung durch Wartungsarbeiten und mehr.
Auf dem Weg zum grĂŒnen Strom
Die Autoren bilanzieren die bisherigen Fortschritte und verbleibenden Herausforderungen:
âDie Geschichte des Windkraftausbaus in Deutschland ist eine Geschichte der verpassten Chancen und der stillen Blockaden. Die Ampel hat in ihrer ersten Halbzeit schon einige wichtige Bremsen gelöst und Weichen gestellt.â
âDen Windkraftausbau hat die Ampel eindeutig beschleunigt. Doch Tempo und Dynamik reichen noch nicht, um die ehrgeizigen Ausbauziele zu erreichen. Staatliche Stellen auf allen Ebenen mĂŒssen mitziehen.â
Sie fordern weitere rechtliche Vereinfachungen, besonders bei immissionsrechtlichen Verfahren und Beteiligungsfristen.
Ausblick
Das Kapitel schlieĂt mit einem vorsichtig optimistischen Ausblick:
âWenn alle mitmachen, kann es klappen, dass schon in wenigen Jahren praktisch nur noch grĂŒner Strom aus der Steckdose kommt. Das wird zugleich der billigste Strom seit Jahrzehnten sein.â
Die Autoren betonen die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Konsens und erkennen die legitimen Bedenken der Anwohner an:
âEin Windrad wirft wirklich Schatten, und es kann auch ziemlichen LĂ€rm machen. Andererseits: Wenn wir es nicht schaffen, die Erhitzung der Erde zu bĂ€ndigen, werden deren Folgen Menschen, Tieren und Pflanzen weit mehr schaden als jedes Windrad.â
Die ungleiche Vermögensverteilung
Das Demokratieversprechen und seine GefÀhrdung
Als nach dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Gesellschaft in Deutschland aufgebaut werden sollte, war ein zentrales Element das âWohlstandsversprechenâ:
âDieses Versprechen, dass es allen wirtschaftlich gut gehen werde, ist seit der GrĂŒndung unseres Staates ein zentraler Faktor fĂŒr die politische StabilitĂ€t der Bundesrepublik. An dieses Wohlstandsversprechen glauben heute allerdings immer weniger Menschen in Deutschland â und zugleich entwickeln immer mehr BĂŒrger:innen Zweifel an der Demokratie an sich.â
Die Autoren stellen einen Zusammenhang her zwischen wachsender sozialer Ungleichheit, dem schwindenden Vertrauen in das Wohlstandsversprechen und der Zunahme demokratiefeindlicher Tendenzen.
Deutschlands Reichtum und seine ungleiche Verteilung
Deutschland ist insgesamt ein sehr wohlhabendes Land. Die privaten Vermögen sind enorm:
âZĂ€hlt man alle bekannten privaten Geldvermögen in Deutschland zusammen, steht unterm Strich die gigantische Zahl von 7617 Milliarden Euro allein an Bargeld, Bankeinlagen, Wertpapieren und AnsprĂŒchen gegen Versicherungen und Pensionseinrichtungen.â
Mit Immobilien und abzĂŒglich der Schulden ergibt sich ein durchschnittliches Privatvermögen von etwa 215.000 Euro pro Person oder 420.000 Euro pro Haushalt. Doch dieser Reichtum ist extrem ungleich verteilt:
âDie Schere sieht also eher aus wie der Schnabel eines Pelikans.â
In Deutschland haben einige wenige Menschen sehr viel, wĂ€hrend viele andere kaum etwas besitzen. Nach Statistiken des DIW besaĂen 2017 die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 56 Prozent des gesamten Privatvermögens, wĂ€hrend die Ă€rmere HĂ€lfte der Bevölkerung zusammen nur 1,3 Prozent des Gesamtvermögens besaĂ.
âDas heiĂt, zehn Prozent reiche Menschen hatten gemeinsam mehr als die ĂŒbrigen 90 Prozent der Bevölkerung zusammen.â
Die Ungleichheit hat seitdem noch zugenommen. Neuere Studien zeigen, dass:
âDas allerreichste Prozent in Deutschland besitzt je nach Berechnung zwischen 27 und 35 Prozent des gesamten Privatvermögens.â
Der Gini-Koeffizient und die wachsende Ungleichheit
Der âGini-Koeffizientâ misst die Ungleichverteilung des Vermögens oder Einkommens. In Deutschland liegt er fĂŒr das Vermögen bei 0,77 â weit ĂŒber dem europĂ€ischen Durchschnitt. Auch der Gini-Koeffizient fĂŒr das Einkommen ist gestiegen, von 28,3 im Jahr 2012 auf 30,9 im Jahr 2021.
Die Autoren betonen, dass nicht nur die Superreichen und die sehr Armen fĂŒr die StabilitĂ€t einer Gesellschaft relevant sind, sondern vor allem die Mittelschicht:
âDramatischer ist, dass die Polarisierung immer weiter in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht. Ob eine Gesellschaft stabil ist, hĂ€ngt nĂ€mlich weder von den Superreichen noch von den Menschen ab, die extrem von Armut betroffen sind. [âŠ] Am wichtigsten fĂŒr eine stabile Gesellschaft ist die Mittelschicht.â
Besonders besorgniserregend ist die steigende ArmutsgefÀhrdungsquote:
âIm Moment liegt die ArmutsgefĂ€hrdungsquote bei mehr als 16 Prozent. Das heiĂt, rund 13 Millionen Menschen in Deutschland sind von konkreter Armut bedroht.â
Historische Entwicklung der Vermögensverteilung in Deutschland
Die Vermögensverteilung in Deutschland war nicht immer so ungleich. Die Autoren beschreiben den Lastenausgleich, den die Regierung Adenauer 1952 einfĂŒhrte:
âJeder Haushalt und alle Unternehmen mussten die HĂ€lfte ihres Vermögens abgeben, damit etwa diejenigen entschĂ€digt werden konnten, die im Krieg zum Beispiel als Ausgebombte oder Vertriebene besonders hohe Verluste erlitten hatten.â
Diese Vermögensabgabe wurde ĂŒber 30 Jahre in Raten gezahlt. Bis 1982 nahm die Bundesrepublik dadurch 115 Milliarden D-Mark ein. Der Lastenausgleich trug wesentlich zur sozialen Gerechtigkeit in der jungen Bundesrepublik bei.
âDie Umverteilung funktionierte: 1969 waren nur noch 20 Prozent des gesamten Privatvermögens im Besitz des reichsten Bevölkerungsprozents. Zwanzig Jahre nach GrĂŒndung der Bundesrepublik bot die Gesellschaft damit fĂŒr eine Weile gerechte Chancen fĂŒr die allermeisten Menschen.â
In den letzten Jahrzehnten hat die Ungleichheit jedoch wieder zugenommen. Das Vermögen der oberen Mittelschicht und der Superreichen wuchs stÀndig, wÀhrend das Vermögen der weniger wohlhabenden HÀlfte der Bevölkerung stagnierte.
Die Rolle der Steuerpolitik bei der Ungleichverteilung
Die Steuerpolitik in Deutschland zementiert die Ungleichheit, statt sie abzumildern. Die Autoren zeigen auf, dass in Deutschland:
âIm Vergleich zu anderen LĂ€ndern zahlen wir auf ArbeitseinkĂŒnfte besonders hohe Steuern, auf Vermögen als solche, Schenkungen und Erbschaften dagegen besonders niedrige.â
Arbeitseinkommen werden progressiv besteuert, mit SteuersĂ€tzen von bis zu 42 Prozent, zuzĂŒglich Sozialabgaben. Wer sehr wenig verdient, zahlt zwar kaum Einkommensteuer, muss aber immer noch mehr als 20 Prozent seines Einkommens als Sozialabgaben entrichten.
Im Gegensatz dazu werden Erben und Beschenkte steuerlich deutlich bevorzugt, obwohl etwa 50 Prozent der Vermögen in Deutschland aus Erbschaften und Schenkungen stammen.
âRund 400 Milliarden Euro werden in Deutschland jedes Jahr vererbt und verschenkt â, beinahe so viel wie der gesamte Bundeshaushalt.â
Die Problematik der Erbschaftssteuer
Die Autoren kritisieren besonders die Ausgestaltung der Erbschaftssteuer in Deutschland:
âUnsere Erbschaftssteuer ist im Grunde regressiv. Es gilt in der Tendenz: Je gröĂer das Erbe, desto niedriger der Steuersatz.â
Dies liegt vor allem an den groĂzĂŒgigen Ausnahmeregelungen fĂŒr Betriebsvermögen. Die Studie zeigt auf, dass zwischen 2009 und 2021:
â3630 Personen insgesamt 260 Milliarden Euro steuerfrei [erhielten] [âŠ] â das ist etwa ein halber Bundeshaushalt. Im Durchschnitt konnten diese Menschen eine Erbschaft von mehr als 71 Millionen Euro pro Person verbuchen.â
Besonders krass:
âAllein 43 Milliarden Euro gingen an 220 Kinder unter 14 Jahren, im Durchschnitt also fast 200 Millionen Euro pro Kind.â
Die Verschonungsregelungen fĂŒr Betriebsvermögen fĂŒhren dazu, dass gerade die gröĂten Vermögen kaum besteuert werden:
âMenschen, die zwischen 2009 und 2020 Erbschaften und Schenkungen von mehr als 20 Millionen erhielten, [bekamen] diese in 87 Prozent der FĂ€lle komplett steuerfrei.â
Weitere steuerliche Privilegien fĂŒr Vermögende
Neben der problematischen Erbschaftssteuer weisen die Autoren auf weitere steuerliche Vorteile fĂŒr Vermögende hin:
- Bei Immobilien profitieren Besitzer von drei âGeschenkenâ:
- Die Abschreibung als fiktiver Wertverlust
- Die Spekulationsfrist, nach der Gewinne nach 10 Jahren steuerfrei sind
- Keine nachtrÀgliche Korrektur der Abschreibung bei Wertsteigerung
Auch bei KapitalertrÀgen zeigt sich eine Bevorzugung:
âEinkĂŒnfte aus Wertpapieren â Zinsen, Dividenden und Gewinne aus Aktienspekulationen â [werden] lediglich mit der sogenannten Abgeltungssteuer von 25 Prozent belegt.â
Dies steht im krassen Gegensatz zum Spitzensteuersatz von 42 bzw. 45 Prozent auf Arbeitseinkommen.
Eine Vermögenssteuer, die von 1923 bis 1996 erhoben wurde, existiert in Deutschland nicht mehr, obwohl sie verfassungsrechtlich zulÀssig wÀre.
Politik und Vermögensverteilung
Warum werden diese Ungerechtigkeiten nicht politisch bekÀmpft? Die Autoren sehen einen Grund in der Zusammensetzung der politischen Elite:
âUngefĂ€hr die HĂ€lfte aller Politiker:innen in Spitzenpositionen stammt nach Untersuchungen des Soziologen Michael Hartmann aus einer politisch-wirtschaftlichen Elite, den »oberen vier Prozent«.â
Diese Politiker haben âkeine realistische Vorstellung vom Leben und Denken der Durchschnittsbevölkerung.â
Die Konsequenzen der Ungleichheit sind jedoch gravierend, insbesondere fĂŒr Menschen am unteren Ende der Skala:
âArmut verringert die Lebenserwartung.â
Anhaltender Stress und schlechtere ErnĂ€hrung fĂŒhren zu mehr Krankheiten. Die Interessen dieser Menschen werden im politischen Prozess kaum vertreten.
LösungsansĂ€tze fĂŒr mehr Gerechtigkeit
Die Autoren stellen verschiedene LösungsansÀtze vor, um die Ungleichheit zu verringern:
Ein âLastenausgleich 2.0â nach dem Vorbild des Lastenausgleichs der Nachkriegszeit:
âReiche Menschen und Unternehmen sollen eine geringe prozentuale Abgabe auf ihr Vermögen zahlen. [âŠ] Die ersten zwei Millionen Euro â bei Firmen sind es fĂŒnf Millionen Euro â sollen nicht besteuert werden. Erst Vermögen, das darĂŒber liegt, wĂŒrde besteuert.â
Diese Abgabe könnte, wie beim historischen Vorbild, ĂŒber viele Jahre abgezahlt werden und dennoch bis zu 310 Milliarden Euro in die Staatskasse spĂŒlen.
Auch eine Reform der Erbschaftssteuer wird vorgeschlagen. Interessanterweise gibt es mittlerweile sogar eine Initiative von Vermögenden selbst ("taxmenow"), die eine höhere Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen fordern.
Fazit: Ungleichheit als Gefahr fĂŒr die Demokratie
Die Autoren betonen den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und dem Schwinden des Vertrauens in die Demokratie:
âWir mĂŒssen wieder mehr ökonomische Fairness wagen. Denn das Wohlstandsversprechen wird unglaubwĂŒrdig, wenn gesellschaftliche Ungleichheit wĂ€chst und sich verhĂ€rtet. Und diese Ungleichheit ist die gröĂte innere Gefahr fĂŒr eine Demokratie.â
Um die Demokratie in Deutschland zu stĂ€rken, muss die Schere zwischen Arm und Reich ein StĂŒck geschlossen werden. Die Initiative âtaxmenowâ bringt es auf den Punkt:
âVermögensungleichheit, wie sie heute existiert, untergrĂ€bt die Demokratie und schadet der Gesellschaft.â
Die Bildungsungerechtigkeit in Deutschland
Bildung als GlĂŒcksspiel: Die ungleichen Startchancen
Die Autoren beginnen mit einer persönlichen Reflexion ĂŒber ihre eigenen privilegierten Bildungswege:
âWir beide hatten GlĂŒck bei dieser Lotterie der Lebenschancen. Wir stammen aus der sogenannten Mittelschicht, aus »bildungsbĂŒrgerlichen« Familien. Bei jedem von uns standen zu Hause ziemlich viele BĂŒcher, abends sahen wir die Tagesschau, und wenn wir in der Schule Hausaufgaben aufbekommen hatten, hat meist jemand darauf geachtet, dass wir sie auch erledigten.â
Diese UnterstĂŒtzung und die stabile familiĂ€re Situation haben ihren schulischen Erfolg begĂŒnstigt und sie gegen die UnzulĂ€nglichkeiten des Bildungssystems âimmunisiertâ. Doch wie sie betonen:
âIn keinem anderen Land in Europa hĂ€ngt eine gute Bildung nĂ€mlich so sehr davon ab, wie gebildet und wohlhabend die Eltern sind.â
Die Autoren stellen das Wohlstandsversprechen als eine der wichtigsten Grundlagen fĂŒr den sozialen Zusammenhalt in Deutschland vor. Dieses Versprechen basiert auf dem Leistungsprinzip: Der Anteil am Wohlstand soll von der persönlichen Leistung abhĂ€ngen, nicht von der sozialen Herkunft oder dem Einkommen der Eltern.
Bildung ist dabei der SchlĂŒsselfaktor:
âDamit das funktionieren kann, muss der Staat das Bildungssystem so gestalten, dass allen jungen Menschen, unabhĂ€ngig von Herkunft und Status der Eltern, tatsĂ€chlich die Chance auf eine gute Bildung bekommt.â
Der PISA-Schock und seine Folgen
Ein Wendepunkt in der deutschen Bildungsdiskussion war der sogenannte PISA-Schock im Jahr 2001. Die internationale Studie brachte Deutschland drei ernĂŒchternde Erkenntnisse:
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Die 15-JĂ€hrigen lagen in allen drei Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt.
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Die Leistungsunterschiede zwischen den stĂ€rksten und schwĂ€chsten SchĂŒlern waren im internationalen Vergleich ĂŒberdurchschnittlich groĂ.
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Es gab einen âstraffen Zusammenhang zwischen Sozialschichtzugehörigkeit und erworbenen Kompetenzen ĂŒber alle untersuchten DomĂ€nen hinwegâ.
Besonders alarmierend war, dass etwa 23 Prozent der Jugendlichen nur auf elementarem Niveau lesen konnten, was auch ihre FĂ€higkeit beeintrĂ€chtigte, Mathematik und naturwissenschaftliche ZusammenhĂ€nge zu verstehen. Ein volles Viertel wurde als âRisikogruppeâ eingestuft.
Die Autoren betonen, dass auch 20 Jahre nach dem PISA-Schock kaum Verbesserungen zu verzeichnen sind. Der IQB-Bildungstrend von 2022 zeigte sogar eine Verschlechterung im Vergleich zu frĂŒheren Untersuchungen von 2011 und 2016:
âDer Anteil der SchĂŒler:innen, die den Mindeststandard nicht erreichen und damit ein hohes Risiko fĂŒr einen weniger erfolgreichen Bildungsweg aufweisen, habe in allen Bereichen teils deutlich zugenommen.â
Die Systemprobleme des deutschen Bildungswesens
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Das mehrgliedrige Schulsystem und seine Filtermechanismen
In Deutschland werden alle Kinder zunĂ€chst in die Grundschule eingeschult und kommen dann, je nach Bundesland, nach vier oder sechs Jahren auf unterschiedliche weiterfĂŒhrende Schulen der Sekundarstufe I, traditionell im âdreigliedrigen Schulsystemâ mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium.
Ein kritischer Punkt ist die Gymnasialempfehlung am Ende der Grundschule. Die Autoren zitieren eine Studie, die zeigt, dass Kinder aus bildungsnahen ElternhÀusern eine 3,5-mal höhere Chance auf eine Gymnasialempfehlung haben als Kinder aus bildungsfernen Familien - selbst bei gleicher Leistung:
âBei gleicher Leistung haben Kinder aus ressourcenreichen Familien deutlich bessere Chancen auf eine Gymnasialempfehlung. [âŠ] Kinder aus sozial schwachen Familien [mussten] fĂŒr die gleiche gymnasiale Schullaufbahnempfehlung beim IGLU-Test 77 Testpunkte mehr erreichen.â
Noch problematischer: âZwischen 2006 und 2016 ist [die Differenz] auf 102 Punkte gestiegen.â
Diese frĂŒhe Filterung der SchĂŒler:innen ist ein zentraler Mechanismus, durch den die Herkunft der Kinder deren Bildungschancen verschlechtert:
âJe frĂŒher differenziert wird, so der Bildungsforscher JĂŒrgen Baumert, desto lĂ€nger wirken die unterschiedlichen Milieus, die sich in den Schulformen herausbilden.â
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Die Postleitzahl entscheidet ĂŒber Bildungschancen
Ein weiteres strukturelles Problem ist die âVerrĂ€umlichung sozialer Ungleichheitâ. Schulen in Ă€rmeren Stadtvierteln haben oft eine âsozioökonomisch benachteiligte SchĂŒlerschaftâ und leiden unter materiellen und personellen Defiziten:
âIn Mangellagen hĂ€tten sie hĂ€ufiger Ausstattungs- und PersonalmĂ€ngel als der OECD-Durchschnitt. GegenĂŒber Schulen in begĂŒnstigten Lagen zeigten Problemschulen hĂ€ufiger Personalmangel, gröĂere FĂŒhrungskrĂ€ftefluktuation, mehr GeflĂŒchtete und eine stĂ€rkere Konzentration leistungsschwacher SchĂŒler.â
Der Bildungsföderalismus als Hemmschuh
Die Bildungshoheit der LĂ€nder erweist sich als problematisch fĂŒr eine gerechte und effiziente Bildungspolitik:
âSchule und Bildung sind â neben der Polizei â eine zentrale Angelegenheit der LĂ€nder. Mehr als 90 Prozent aller Bildungskosten werden von LĂ€ndern und Kommunen getragen. Der Bund darf sich nur in sehr eng umrissenen EinzelfĂ€llen ĂŒberhaupt in die Bildung einklinken â meist mit Sonderprogrammen.â
Diese föderale Struktur fĂŒhrt zu verschiedenen Problemen:
- Uneinheitliche Finanzierung: Der sogenannte Königsteiner SchlĂŒssel verteilt Gelder nicht nach BedĂŒrftigkeit, sondern nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl:
âDas heiĂt, LĂ€nder mit einem hohen Steueraufkommen bekommen automatisch mehr Geld als LĂ€nder mit einem geringen Steueraufkommen â und zwar auch dann, wenn es eigentlich darum gehen soll, Ă€rmere LĂ€nder zu unterstĂŒtzen.â
- Fehlende einheitliche Daten: In Deutschland gibt es 16 verschiedene Schulstatistiken, die kaum vergleichbar sind:
âEs gibt in Deutschland zurzeit 16 verschiedene Schulstatistiken â von denen kaum zwei dieselben Merkmale erfassen. Niemand kann auf dieser Basis einen belastbaren Ăberblick ĂŒber Situation und Verteilung sozial benachteiligter SchĂŒler:innen in Deutschland bekommen.â
- Die Kultusministerkonferenz (KMK) als schwerfÀlliges Koordinationsgremium:
âMeist sind das quĂ€lende Runden, weil die Vorstellungen je nach parteipolitischem Hintergrund sehr unterschiedlich sind.â
Die Krise des Lehrermangels
Die Unterfinanzierung des Bildungswesens und der dramatische FachkrĂ€ftemangel ĂŒberlagern alle anderen Probleme oder lösen diese aus. In Deutschland fehlen mindestens 25.000 LehrkrĂ€fte, nach anderen Berechnungen könnten es auch 40.000 sein.
âIn zehn Jahren dĂŒrften 70.000 Stellen unbesetzt sein. Laut GEW fehlen bis 2035 sogar 500.000 Lehrer:innen.â
Die Situation ist bereits so dramatisch, dass Sachsen-Anhalt ein Modell mit â4 Tage pro Woche normaler Unterricht, ein Tag Projektzeit oder Distanzlernenâ testete.
Der Lehrermangel wirkt sich besonders stark auf Schulen in benachteiligten Gebieten aus:
âWenn ein BerufsanfĂ€nger aus 25 Angeboten wĂ€hlen kann, muss er schon sehr idealistisch sein, um zu uns zu kommen.â
Die Reaktionen der Kultusministerkonferenz auf dieses Problem werden als âlauwarm, hilflos, panisch, mindestens zehn Jahre zu spĂ€t â und stellenweise auch zynischâ beschrieben.
LösungsansĂ€tze fĂŒr mehr Bildungsgerechtigkeit
Die Autoren stellen verschiedene LösungsansÀtze vor:
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Das âStartchancenâ-Programm der Ampel-Koalition:
â4000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter SchĂŒlerinnen und SchĂŒler sollen vom Bund etwa ein sogenanntes Chancenbudget zur freien VerfĂŒgung bekommen.â
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Förderung von Gemeinschaftsschulen, in denen Kinder unterschiedlicher Leistungsniveaus gemeinsam unterrichtet werden:
âWenn man die starken SchĂŒler betrachtet, dann werden sie nicht gebremst, sondern gewinnen zum einen an Sozialkompetenz. [âŠ] Die LeistungsschwĂ€cheren sind davon nicht etwa demotiviert, sondern sehen ganz im Gegenteil, was alles möglich ist.â
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FrĂŒhe Sprachförderung durch Sprach-Kitas:
âDort werden vor allem fremdsprachige Kinder mit zusĂ€tzlichen FachkrĂ€ften betreut und in Zusammenarbeit mit den Eltern beim Deutschlernen unterstĂŒtzt.â
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Reform der Mittelverteilung durch einen âMultiplen Benachteiligungsindexâ (MBI):
âDarin werden alle Faktoren der möglichen Benachteiligung zu sogenannten Dimensionen zusammengefasst: Wirtschafts- und Finanzkraft des Landes, soziale BedĂŒrftigkeit, Bildungsstand der Bevölkerung und der Anteil Jugendlicher unter 18 Jahren mit Migrationshintergrund.â
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Professionalisierung der Schulleitung als Managementaufgabe:
âDie Leitung einer Schule sei eine Managementaufgabe, die unbedingt professionalisiert werden mĂŒsse. DafĂŒr brauche es lĂ€nderĂŒbergreifende QualitĂ€tsstandards, kompatible Ausbildungswege und gröĂere Zeit- und Geldbudgets.â
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Reform des Bildungsföderalismus:
âEs ist sehr sinnvoll, Bildungspolitik ĂŒber StaatsvertrĂ€ge zu steuern und das Kooperationsverbot fĂŒr eine gemeinsame Finanzierung aller Ebenen aufzuheben.â
Fazit: Bildung als gesellschaftliche Investition
Die Autoren schlieĂen mit einem klaren Appell:
âGute Bildungspolitik ist ein langfristiges, kleinteiliges und vielschichtiges Investment in eine funktionierende demokratische Gesellschaft und eine florierende Wirtschaft.â
Die messbare Wirkung einer chancengerechteren Bildung wÀre keine plötzliche Sensation, sondern:
âEin langsames Absinken struktureller Benachteiligung und messbarer Ungerechtigkeit, das zugleich deren Symptome reduzieren wĂŒrde: beispielsweise ArmutskriminalitĂ€t, hohe Gesundheitskosten und, ja, auch Rechtsextremismus.â
Sie betonen, dass es keinen Königsweg zu einer besseren Bildung gibt, aber konkrete Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Besonders wichtig ist die Einsicht:
âWir sind eine Einwanderungsgesellschaft â face it! Das ist eine groĂe Chance, wenn wir sie denn nutzen.â
Das deutsche Rentensystem
Die Unsicherheit der gesetzlichen Rente
Das Kapitel beginnt mit der Geschichte von Burkhard Schröder, einem angesehenen Journalisten, der trotz jahrzehntelanger BerufstÀtigkeit als Freelancer im Alter nur 400 Euro Rente erhÀlt:
âWas kĂŒmmert mich das heute? Bis 67 habe ich fĂŒnf Bestseller geschrieben, im Lotto gewonnen, geerbt, selbst Karriere gemacht oder bin lĂ€ngst tot. Kann alles sein, aber verlassen solltet ihr euch darauf lieber nicht.â
Diese Anekdote verdeutlicht ein zentrales Problem: Der Slogan âDie Rente ist sicherâ, den die Bundesregierung unter Norbert BlĂŒm 1986 plakatierte, hat mit der RealitĂ€t vieler Menschen wenig zu tun. Zwar wird die gesetzliche Rentenkasse immer irgendeine Summe ĂŒberweisen, wenn mindestens fĂŒnf Jahre lang eingezahlt wurde, aber eine auskömmliche Altersversorgung ist damit nicht garantiert.
Besonders problematisch: Fast 83 Prozent der arbeitenden und arbeitssuchenden Bevölkerung sind auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen. Bei den restlichen 17 Prozent haben Beamte ihre eigene Pension, wÀhrend viele SelbststÀndige ohne entsprechende Vorsorge im Alter zu verarmen drohen.
Die Funktionsweise des Umlagesystems
Das deutsche Rentensystem basiert seit 1957 auf dem Umlageverfahren, bei dem die Einzahlungen der aktuell BerufstÀtigen direkt zur Finanzierung der laufenden Renten verwendet werden:
âDie Rentenkasse funktioniert seitdem eher wie die Haushaltskasse einer Familie: Ein Teil der Bevölkerung zahlt monatlich Geld ein, das im selben Monat an einen anderen Teil wieder ausgezahlt wird.â
Die aktuelle Beitragshöhe liegt bei 18,6 Prozent des Bruttolohns, wobei die HĂ€lfte direkt vom Lohn abgezogen wird und die andere HĂ€lfte vom Arbeitgeber ĂŒbernommen wird. Im Jahr 2021 nahm die Deutsche Rentenversicherung monatlich durchschnittlich etwa 21 Milliarden Euro ein.
Dieser âGenerationenvertragâ funktioniert allerdings nur, solange die Rentenversicherung mindestens so viel Geld einnimmt, wie sie auszahlen muss. Hier liegt das Kernproblem:
âNach dem Zweiten Weltkrieg ging die Rechnung noch auf: Die Rente eines Rentners wurde im Schnitt von sechs arbeitenden Menschen erwirtschaftet. [âŠ] Im Jahr 2021 hingegen gab es in Deutschland nur noch rund 39 Millionen Versicherte, die einzahlten, aber etwa 18 Millionen Rentner:innen, die Geld bekamen. Statistisch gesehen finanzieren heute also nur noch rund zwei LohnempfĂ€nger:innen gemeinsam einem Menschen die Rente.â
Die 100-Milliarden-RentenlĂŒcke und ihre Ursachen
Die Einnahmen aus BeitrĂ€gen reichen bei weitem nicht aus, um die Ausgaben der Rentenkassen zu decken. Die Rentenkasse kann nur funktionieren, weil der Bund jĂ€hrlich Milliarden aus dem Bundeshaushalt ĂŒberweist:
â2023 waren es ĂŒber 100 Milliarden, Tendenz steigend. [âŠ] Der gesamte Bundeszuschuss belĂ€uft sich auf knapp ein Viertel des gesamten Bundeshaushalts und deckt ein knappes Drittel der gesamten Ausgaben der Rentenkasse.â
Die Hauptursache fĂŒr dieses Ungleichgewicht ist der demografische Wandel:
- Die geburtenstarken JahrgÀnge (Babyboomer) gehen in den kommenden Jahren in Rente
- Immer weniger Menschen zahlen in die Rentenkasse ein
- Die Menschen leben immer lÀnger und beziehen entsprechend lÀnger Rente
Die Folgen sind dramatisch:
âWenn wir es so laufen lassen, mĂŒsste der Bund in 25 Jahren mehr als die HĂ€lfte des Haushalts dafĂŒr ausgeben. Das kann nicht funktionieren.â
Gleichzeitig muss Deutschland in den kommenden Jahren Hunderte Milliarden Euro fĂŒr andere wichtige Zukunftsaufgaben aufbringen: Digitalisierung, bessere Bildung, AusrĂŒstung der Bundeswehr, BekĂ€mpfung des Klimawandels und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur.
Die Berechnung der individuellen Rente
Die Rentenformel basiert auf vier Faktoren:
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Entgeltpunkte: Einen Rentenpunkt erhĂ€lt man fĂŒr jedes Jahr, in dem genau das bundesweite Durchschnittseinkommen verdient wurde. Bei höherem oder niedrigerem Einkommen Ă€ndert sich die Punktzahl entsprechend.
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Zugangsfaktor: Dieser Faktor berĂŒcksichtigt, ob man frĂŒher, spĂ€ter oder genau zum gesetzlichen Renteneintrittsalter in Rente geht. FrĂŒherer Renteneintritt bedeutet AbschlĂ€ge, spĂ€terer bringt ZuschlĂ€ge.
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Aktueller Rentenwert: Der Wert eines Entgeltpunkts in Euro, der jÀhrlich neu festgelegt wird. 2023 lag er bei 37,60 Euro.
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Rentenartfaktor: Dieser Faktor hÀngt davon ab, warum jemand in Rente geht (Altersrente, Erwerbsminderungsrente usw.).
Eine kritische Erkenntnis: Das oft diskutierte âRentenniveauâ von 48 Prozent bezieht sich nicht auf das letzte eigene Gehalt, sondern auf einen fiktiven âEckrentnerâ, der 45 Jahre lang genau das Durchschnittseinkommen verdient hat:
âDie meisten Menschen bekommen damit jedoch wesentlich weniger als 48 Prozent ihres letzten Einkommens. So lag die real ausgezahlte Durchschnittsrente 2022 bei 1276 Euro im Monat fĂŒr MĂ€nner. Frauen bekommen im Schnitt sogar nur 1060 Euro.â
Nur rund 4,7 Millionen der etwa 21 Millionen Rentner bekommen ĂŒberhaupt eine Rente in Höhe des âEckrentnersâ oder darĂŒber - also nur etwa jeder FĂŒnfte.
Private Vorsorge als unverzichtbare ErgÀnzung
Angesichts der Probleme der gesetzlichen Rente betonen die Autoren die Notwendigkeit privater Vorsorge. Sie stellen verschiedene Optionen vor:
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Private Rentenversicherungen: Die staatlich geförderte Riester-Rente hat die Erwartungen nicht erfĂŒllt, aber andere private Rentenversicherungen können ein Baustein der Altersvorsorge sein - besonders wenn die BeitrĂ€ge in Aktien investiert werden.
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ETF-SparplÀne: Als besonders empfehlenswert werden ETF-SparplÀne dargestellt:
âDer wichtigste Baustein fĂŒrs Sparen im Alter heiĂt aber: Dinge kaufen, deren Wert mit den Jahren wahrscheinlich steigt. Zum Beispiel Immobilien oder Aktien. Wesentlich flexibler und oft auch mit mehr Rendite als in einer privaten Rentenversicherung könnt ihr euer Geld in einem ETF-Sparplan anlegen.â
Die Autoren betonen, dass selbst kleine monatliche BetrĂ€ge ĂŒber ein langes Arbeitsleben zu einer ordentlichen Zusatzversorgung fĂŒhren können, und ermutigen dazu, frĂŒhzeitig mit dem Sparen zu beginnen.
LösungsansĂ€tze fĂŒr die Rentenkrise
Um das Rentensystem in Deutschland zu stabilisieren, diskutieren die Autoren verschiedene Reformmöglichkeiten, die an drei zentralen Stellschrauben ansetzen:
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- Das Rentenniveau
Die erste Möglichkeit wÀre, das allgemeine Rentenniveau zu senken oder zumindest die jÀhrlichen Rentenerhöhungen zu begrenzen:
âDie Renten sollten nicht mehr so stark steigen wie die Löhne.â
Einige Ăkonomen, wie die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer, stellen sogar das Ăquivalenzprinzip in Frage, wonach doppelte Einzahlung zu doppelter Rente fĂŒhrt:
âWir sollten besonders hohe Renten kĂŒnftig abschmelzen. Wer ĂŒppige RentenansprĂŒche erarbeitet hat, bekĂ€me dann etwas weniger.â
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- Die Lebensarbeitszeit
Eine weitere Stellschraube ist die VerlÀngerung der Lebensarbeitszeit:
âJe lĂ€nger wir leben, desto lĂ€nger mĂŒssen wir arbeiten.â
Obwohl das gesetzliche Renteneintrittsalter bis 2031 auf 67 Jahre steigen soll, argumentieren Experten, dass es darĂŒber hinaus erhöht werden mĂŒsste. Dies wĂŒrde das VerhĂ€ltnis zwischen Einzahlenden und EmpfĂ€ngern verbessern, da Menschen lĂ€nger einzahlen und kĂŒrzer Rente beziehen.
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- Mehr BeitrĂ€ge fĂŒr die Rentenkasse
Die dritte Stellschraube betrifft die Einnahmen der Rentenkasse:
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ErwerbstĂ€tigenversicherung: Ein Vorschlag ist die Umwandlung der gesetzlichen Rentenversicherung in eine ErwerbstĂ€tigenversicherung, bei der alle Menschen, die in irgendeiner Weise Geld verdienen, in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen mĂŒssten - auch Beamte, SelbststĂ€ndige und andere bisher nicht Versicherungspflichtige.
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Aktienrente/Generationenkapital: Die im MĂ€rz 2024 vorgestellte Rentenreform der Ampel-Koalition sieht ein âGenerationenkapitalâ vor, bei dem eine unabhĂ€ngige Stiftung jĂ€hrlich Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt in Aktien und andere Wertpapiere investieren soll. Die Autoren kritisieren jedoch, dass die geplanten Summen zu gering sind, um wirklich eine spĂŒrbare Entlastung zu bringen:
âBei einem BeschĂ€ftigen mit einem Monatsbrutto von 3000 Euro entsprĂ€che das einer Entlastung von 4,50 Euro pro Monat â je fĂŒr den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber. Also eher ein Tropfen auf den heiĂen Stein.â
Sie bevorzugen eine âechteâ Aktienrente nach schwedischem Vorbild, bei der ein Teil der RentenbeitrĂ€ge direkt in Aktienfonds investiert wird.
- Weitere Ventile: ZusĂ€tzlich werden noch andere MaĂnahmen vorgeschlagen, wie mehr Einwanderung junger Menschen, bessere Verdienste durch höhere Qualifikation und die StĂ€rkung der betrieblichen Altersvorsorge.
Fazit: Die Zukunft der Rente
Die Autoren ziehen ein nĂŒchternes Fazit zur Zukunft der Rente in Deutschland:
âDamit es in Deutschland auch in Zukunft noch so etwas wie eine funktionierende gesetzliche Rentenversicherung gibt, muss das System grundlegend modernisiert werden. Das Umlagesystem funktioniert heute schon nicht mehr und wird nur mit Milliarden aus dem Haushalt am Leben gehalten.â
Sie fordern mutige Reformen, bei denen alle Beteiligten Abstriche machen mĂŒssen:
âRentner:innen (vor allem reiche) werden Abstriche machen mĂŒssen. Die Renten können nicht mehr mit den Löhnen wachsen, sondern nur noch mit der Inflation. Wir werden umso lĂ€nger arbeiten mĂŒssen, je höher die Lebenserwartung steigt.â
Zugleich wird betont, dass eine vollstÀndige Absicherung allein durch die gesetzliche Rente nicht mehr realistisch ist:
âAllen Versicherten muss klar sein, dass die gesetzliche Rente in Zukunft nur noch ein Beitrag zu den Lebenskosten im Alter sein wird und allein nicht zu einem guten Leben reicht.â
Am Ende steht die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen:
âEine existenzsichernde Rente, wie wir sie von Oma und Opa kennen, gibt es schon heute nicht mehr. Wenn die nĂ€chsten Reformen gelingen, kriegen wir aus der gesetzlichen Rentenversicherung einen Zuschuss fĂŒr die elementaren BedĂŒrfnisse. Um den Rest mĂŒssen wir uns selbst kĂŒmmern â und zwar schon heute.â
Mehr Macht wagen
Der bundesdeutsche Föderalismus bremst Reformen aus und funktioniert nicht mehr wie ursprĂŒnglich gedacht. Notwendige GesetzesĂ€nderungen werden systematisch verzögert oder verhindert.
âEin entscheidender Teil ihrer Lösung besteht meistens darin, die Rechtslage zu Ă€ndern. Doch leider ist die Art und Weise der Gesetzgebung in Deutschland ihrerseits eine GroĂbaustelle.â
Föderalismus auf Abwegen
Deutschland besteht aus 16 BundeslĂ€ndern mit eigener Staatlichkeit. Der Bundesrat sollte ursprĂŒnglich als sachliches Gremium fungieren, hat sich aber zu einem politischen Blockadeinstrument entwickelt.
âAls 1948/49 das Grundgesetz formuliert wurde, sollte der Bundesrat als objektive und sachorientierte Kammer ein Gegengewicht zum politisierten Bundestag bilden. Von dieser Sachorientierung ist nach 75 Jahren nicht viel ĂŒbrig.â
Von der Reform zum Reförmchen
Die BĂŒrgergeld-Reform zeigt exemplarisch, wie eine grundlegende Reform durch den Bundesrat zu einem âReförmchenâ wird. Trotz Mehrheit im Bundestag wurden zentrale Reformelemente blockiert.
âDer Bundestag stimmte dem Entwurf zu. Doch vier Tage spĂ€ter schmetterte der Bundesrat das vom Bundestag beschlossene Gesetz wie angekĂŒndigt ab. Die Streichungen, auf die sich der Vermittlungsausschuss geeinigt hatte, betrafen die Kernpunkte der geplanten Reform.â
Die Opposition regiert mit
Selbst wenn eine Partei die Bundestagswahl verliert, kann sie ĂŒber den Bundesrat Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen, wenn sie in ausreichend vielen LĂ€ndern mitregiert.
âDer Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christian Stecker sieht es als eine der âkaum hinterfragten Grundkonstanten des politischen Systems der Bundesrepublik, dass die Opposition mit Hilfe des Bundesratsvetos mitregieren kann.ââ
Wie Gesetze im Bund beschlossen werden
Alle Bundesgesetze mĂŒssen vom Bundestag verabschiedet werden. Bei Zustimmungsgesetzen (etwa 40% aller Gesetze) ist zusĂ€tzlich die Zustimmung des Bundesrats erforderlich.
âGanz egal, mit welcher Mehrheit der Bundestag einem Entwurf zustimmt, wenn nicht auch im Bundesrat eine Mehrheit zustimmt, kann das Gesetz nicht in Kraft treten.â
Die Mathematik der Macht
Im Bundesrat zĂ€hlen nur Ja-Stimmen, und jedes Land muss seine Stimmen einheitlich abgeben. Eine Enthaltung wirkt faktisch wie ein Nein, was kleinen Koalitionspartnern in den LĂ€ndern unverhĂ€ltnismĂ€Ăig viel Macht gibt.
âJede Stimme, die nicht Ja lautet, ist daher de facto eine Stimme gegen das Gesetz. Wenn LĂ€nder sich im Bundesrat enthalten, stimmen sie also in Wirklichkeit nicht neutral, sondern gegen das Gesetz.â
Der SĂŒndenfall des Bundesverfassungsgerichts
1958 traf das Bundesverfassungsgericht eine folgenschwere Entscheidung, die die Vetomacht des Bundesrats deutlich vergröĂerte.
âWenn ein Gesetz auch nur einen Satz enthĂ€lt, der der Zustimmung des Bundesrats bedarf - beispielsweise, weil er die Verwaltung der LĂ€nder betrifft -, dann macht dieser eine Satz das ganze Gesetz, also womöglich Hunderte von Paragrafen, im Bundesrat zustimmungspflichtig.â
Wann ist ein Veto legitim?
Die demokratische Legitimation der Vetoposition ist zweifelhaft. Heute können Parteien mit nur 12-20% der WÀhlerstimmen auf Landesebene Bundesgesetze blockieren.
âChristian Stecker rechnete 2021 vor: âDie GrĂŒnen kommen derzeit mit zwölf Prozent der bundesweiten WĂ€hlerunterstĂŒtzung besonders gĂŒnstig an föderale Vetomacht.â Grund dafĂŒr ist die Tendenz zu immer breiteren Koalitionen in den Landesregierungen.â
Wie der Zwang zum Kompromiss die Demokratie aushöhlt
Die Notwendigkeit fĂŒr breite Kompromisse ĂŒber Parteigrenzen hinweg fĂŒhrt dazu, dass WĂ€hler nicht mehr erkennen können, wer fĂŒr welche Politik verantwortlich ist.
âBei Kompromissen, die von einer informellen Koalition quer ĂŒber das politische Spektrum ausgehandelt werden, können WĂ€hler:innen nĂ€mlich oft nicht mehr erkennen, wer welche Aspekte durchgesetzt oder aber verhindert hat. Damit fehlt in letzter Konsequenz die Orientierung, wen sie fĂŒr gute oder schlechte Entscheidungen jeweils verantwortlich machen können.â
Wie wir unseren Föderalismus reparieren können
Die Autoren schlagen eine einfache Lösung vor: Eine Enthaltung sollte als echte Enthaltung zÀhlen, nicht als Nein. Ein Land sollte ein Gesetz nur blockieren, wenn alle Koalitionspartner darin einig sind.
âDie verfassungsrechtlich sauberste und sicherste Lösung wĂ€re eine Ănderung von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes: âDer Bundesrat fasst einen Beschluss, wenn die Zahl der fĂŒr eine Vorlage abgegebenen Ja-Stimmen die Zahl der abgegebenen Nein-Stimmen ĂŒbersteigt.ââ
Noch einfacher wĂ€re eine Ănderung der Staatspraxis in den LĂ€ndern:
âEs wĂŒrde schon ausreichen, wenn die Parteien die Staatspraxis in den LĂ€ndern Ă€nderten. Sie mĂŒssten nur vereinbaren, dass sich das jeweilige Land in Zukunft im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Koalitionsparteien nicht mehr enthĂ€lt, sondern standardmĂ€Ăig Ja sagt.â
Bye, bye, Happyland
Ein abschlieĂender Appell an die WeiĂe Mehrheit. WĂ€hrend viele der Baustellen in diesem Buch mit politisch-juristischen Werkzeugen des Staates zu beheben sind, gibt es tiefere gesellschaftliche Probleme, die einer kulturellen Erneuerung bedĂŒrfen.
Die alltÀgliche RealitÀt von Rassismus
Alltagsrassismus ist ein groĂes Problem in Deutschland. Menschen werden tĂ€glich benachteiligt und herabgewĂŒrdigt, weil sie als âandersâ wahrgenommen werden.
âJeden Tag werden Menschen in Deutschland benachteiligt, beleidigt, offen oder subtil herabgewĂŒrdigt und - mitunter wohlmeinend - ausgegrenzt, weil sie etwa aufgrund ihres Aussehens, ihres Namens oder ihrer Kleidung als »anders« gelesen werden als die WeiĂe Mehrheit im Land.â
Fast die gesamte Bevölkerung (90 Prozent) erkennt Rassismus als RealitÀt in Deutschland an. Rassistische Diskriminierung findet sich strukturell in der Polizeiarbeit, im Bildungswesen und im Gesundheitssystem.
Das Leben im âHappylandâ
Die Autoren wenden sich als weiĂe MittelstandsmĂ€nner vor allem an die privilegierte Mehrheitsgesellschaft, die nicht direkt von Rassismus betroffen ist und sich daher nicht gezwungen sieht, sich damit auseinanderzusetzen.
âWir leben, wie die Autorin und Trainerin Tupoka Ogette es in ihrem Buch Exit Racism nennt, im »Happyland«. Das ist der Teil Deutschlands, in dem Rassismus immer ein Charakterfehler der anderen ist: der Nazis, der rechten SchlĂ€ger, der AfD.â
Die Wirklichkeit ist jedoch, dass rassistische Denkmuster auch in gebildeten, aufgeklÀrten Menschen wirken - meist unbewusst und entgegen dem eigenen Selbstbild.
Die historischen Wurzeln
Rassistische Ideologien wirken in europÀischen Gesellschaften seit Jahrhunderten und haben die Kolonisierung, Versklavung und Völkermorde legitimiert.
âDiese ĂŒber Jahrhunderte implementierten Vorstellungen von einer angeblich natĂŒrlichen Hierarchie unter Menschen verschwinden leider nicht, nur weil sich die Staatsform demokratisiert. Rassistische Denkfiguren ĂŒberleben bis heute in unserer Kultur und unserem Verhalten.â
Eine Befragung unter Leitung der Migrationsforscherin Naika Foroutan zeigte, dass bei jeder zweiten bis dritten befragten Person âbiologistische Kategorisierungen, kulturelle Hierarchisierungen und [die] Legitimierung von sozialen Ungleichheitenâ zu finden sind.
Die konkreten Auswirkungen
Die Folgen von Rassismus sind allgegenwĂ€rtig und messbar: Schwarze oder asiatisch aussehende Menschen haben schlechtere Chancen bei Bewerbungen, besonders wenn sie fĂŒr muslimisch gehalten werden. Menschen mit fremd klingenden Namen werden bei Wohnungsbewerbungen aussortiert.
Der Afrozensus, eine Befragung von etwa 6000 Schwarzen und afrodiasporischen Menschen, listet ĂŒber 40 Alltagssituationen auf, die als rassistisch und diskriminierend empfunden werden. Ăber 60 Prozent der Befragten meiden bestimmte Reiseziele in Deutschland aus Angst vor rassistischer Gewalt.
âWenn ich dauernd gefragt werde, wo ich herkomme, komisch angeschaut werde, wenn ich ein Restaurant betrete, ich fragen muss, ob ich die Wohnung nicht bekommen habe, weil mein Name nicht deutsch klingt â dann habe ich keine Wahl. Rassismus ist Alltag, keine Option.â
Wege zur VerÀnderung
Um Rassismus zu bekÀmpfen, schlagen die Autoren mehrere Schritte vor:
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Selbstbeobachtung
Wir mĂŒssen unsere eigenen rassistischen Impulse erkennen und reflektieren.
âViele von uns haben tĂ€glich rassistische Impulse, oft genug, ohne dass es uns bewusst ist, und selbst dann, wenn wir in bester Absicht handeln. Entscheidend ist jedoch nicht das Motiv, sondern die Wirkung einer Handlung.â
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Perspektivwechsel
Wir sollten versuchen zu verstehen, wie ein Leben ohne die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft aussieht und wie unser Verhalten bei anderen ankommt.
âDiese kleinen Momente, sie wirken wie MĂŒckenstiche. Kaum sichtbar, im Einzelnen auszuhalten, doch in schierer Summe wird der Schmerz unertrĂ€glich. Diese MĂŒckenstiche haben einen Namen: Mikroaggressionen.â
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Bewusster Sprachgebrauch
Mit Sprache beschreiben und gestalten wir unsere Welt. Wir mĂŒssen unsere Worte sorgsam wĂ€hlen und ĂŒberprĂŒfen, welche Annahmen darin stecken.
â»*Wir riefen ArbeitskrĂ€fte, und es kamen Menschen*«, sagte Max Frisch mit Blick auf jene MĂ€nner und Frauen aus der TĂŒrkei, die lange »Gastarbeiter« genannt wurden. Diese Begriffe verdeutlichen die Macht der Sprache.â
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Widerspruch
Wir sollten rassistischen ĂuĂerungen widersprechen, auch im privaten Umfeld. Ein ausbleibender Widerspruch enthĂ€lt immer eine implizite Zustimmung.
âNatĂŒrlich drohen in solchen Situationen hitzige und persönliche Debatten, doch ein ausbleibender Widerspruch enthĂ€lt immer eine implizite Zustimmung â Rassismen bleiben dann im Raum stehen und werden bestĂ€rkt.â
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Vielfalt fördern
Die gesellschaftliche Vielfalt sollte ĂŒberall sichtbar gemacht werden: in der Schule, in den Medien, in Unternehmen und in der Ăffentlichkeit.
âReprĂ€sentation ist wirkungsvoll, sie kann Abwehr hervorbringen, aber auch abbauen. Was als normal und alltĂ€glich empfunden wird, macht uns keine Angst. Unsere Gesellschaft ist vielfĂ€ltig, das ist normal â und das sollte sich in den Bildern spiegeln, die wir uns von uns machen.â
Fazit
Die Autoren schlieĂen mit einem Appell zur Selbstreflexion und Anerkennung des Problems:
âBeginnen wir also damit, dass wir unser Problem anerkennen. Reflektieren wir unsere Impulse und wagen wir den Perspektivwechsel. Das löst nicht alle Probleme, aber ohne uns geht es nicht.â
Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, das nicht allein durch staatliche MaĂnahmen gelöst werden kann. Es erfordert das aktive Engagement und die Selbstreflexion jedes Einzelnen, insbesondere der nicht direkt betroffenen Mehrheitsgesellschaft.