👉 Mother of Invention: How Good Ideas Get Ignored in an Economy Built for Men by Katrine Marçal

Notizen

Teil 1: Erfindungen

Note 1

Die Geschichtsschreibung war sich lange einig, dass das Rad in Mesopotamien erfunden wurde. Es diente dort als Töpferscheibe, wurde also nicht für den Transport verwendet. Inzwischen glauben manche Historiker, dass Bergleute in den Karpaten schon mit Karren Kupfererz aus ihren Minen rollten, lange bevor sich in Mesopotamien die Töpferscheiben drehten. Das älteste noch erhaltene Rad ist fünftausend Jahre alt. Es wurde in Slowenien, rund zwanzig Kilometer südlich von Ljubljana, gefunden. Mit anderen Worten: Die Technologie, die Bernard Sadow schließlich nutzte, um sein Kofferproblem zu lösen, existiert seit mindestens fünf Jahrtausenden.

Note 2

Robert Shiller war offenbar fasziniert von diesem Thema, es taucht in seinen Veröffentlichungen immer wieder auf. In seinem Buch «Narrative Wirtschaft» erwägt der weltbekannte Ökonom die These, unser Widerstand gegen Koffer auf Rädern lasse sich durch eine Form von Gruppendruck erklären, die häufig eine Rolle spielt, wenn neumodische Ideen zunächst auf Skepsis stoßen. Wenn niemand sonst die Neuerung nutzt – insbesondere niemand, den wir als erfolgreich einstufen –, vermuten wir einen rationalen Grund dahinter. Was, wenn diese Neuerung schädlich ist oder sogar gefährlich? Da wählen wir lieber das bekannte Übel. Wenn niemand sonst seinen Koffer hinter sich herzieht, kann es zu nichts gut sein.

Note 3

Ein weiterer weltbekannter Denker, den das Rollkoffer-Rätsel in seinen Bann geschlagen hat, ist Nassim Taleb. Er hatte selbst jahrelang schwere Gepäckstücke durch Flughäfen und Bahnhöfe geschleppt und wunderte sich rückblickend, dass er den Status quo so fraglos akzeptierte. In seinem Buch «Antifragilität» setzt er sich mit dem Phänomen auseinander. Taleb begreift unsere Unfähigkeit, Koffer mit Rollen zu versehen, als Paradebeispiel für die allgemeine Neigung, gerade die einfachsten Lösungen zu übersehen. Wir Menschen haben es gern schwierig, verschwenderisch und kompliziert. Nur weil Erfindungen wie Koffer auf Rollen im Nachhinein naheliegend erscheinen, muss das also nicht heißen, dass sie es wirklich waren.

Note 4

Männer lehnen Einkaufswagen ab:

Niemand wollte die Vehikel benutzen. Man lehnte sie komplett ab. Goldman musste eigens Statisten anheuern, die seine Einkaufswagen durch die Gänge schoben, um die Kundschaft an das Konzept zu gewöhnen. Männer empfanden die Neuerung als persönlichen Affront: «Sehe ich aus, als könnte ich mit meinen starken Armen diesen lächerlichen kleinen Korb nicht tragen?», riefen sie. Bevor Sylvan Goldman mit seiner Idee Millionen verdienen konnte, musste er erst einmal die Vorstellung überwinden, es sei unmännlich, einen Einkaufswagen zu benutzen. Diese Vorstellung hatte durchaus Gewicht.

Note 5

Vom Erfinder des Rollkoffers:

Das stürzte Lancelot in ein unlösbares Dilemma und verlieh dem Angebot des Zwergs einen diabolischen Dreh. Die entscheidende Pointe der Verserzählung besteht darin zu zeigen, wie tief der edle Lancelot für seine Königin und ihre Liebe zu sinken bereit ist. Sehr tief, wie sich herausstellt. Er steigt auf den Karren und bringt damit seine tragische Geschichte ins Rollen. Aber kommen wir zu Bernard Sadow zurück und zu seiner revolutionären Erfindung. In einem der wenigen Interviews, die er gegeben hat, sprach er darüber, wie schwierig es war, den amerikanischen Warenhäusern sein Produkt schmackhaft zu machen: «Es gab damals diese machohafte Einstellung. Männer trugen ihren Frauen das Gepäck. Das wurde als der natürliche Lauf der Dinge angesehen.»

Note 6

Über echte Männer:

Solche Fragen bilden den Kern des vorliegenden Buches. Wie sich noch zeigen wird, ist die Welt voll von Menschen, die lieber sterben würden, als bestimmte Männlichkeitsideale aufzugeben. Glaubenssätze wie «Echte Männer essen kein Gemüse», «Echte Männer gehen nicht mit jeder Kleinigkeit zum Arzt» und «Echte Männer benutzen keine Kondome» kosten buchstäblich echte Männer aus Fleisch und Blut das Leben. Unsere Vorstellungen davon, was einen Mann ausmacht, gehören zu den am wenigsten wandelbaren kulturellen Konstanten, und sie zu erhalten ist uns wichtiger als das Leben selbst. So gesehen ist es schon weniger überraschend, dass sie technische Neuerungen ein paar Jahrtausende lang ausbremsen können. Wir sind es nur nicht gewohnt, Genderrollen und Innovation zueinander in Beziehung zu setzen.

Note 7

Über Bertha Benz (Frau von Carl Benz)

Dazu sollte man wissen, dass Bertha Benz fast ihr gesamtes Vermögen in diese Erfindung gesteckt hatte. Erst hatte sie ihre Mitgift in die Firma investiert, dann ihre Eltern überredet, ihr eine vorzeitige Erbschaft zu überschreiben. Von den 4244 Gulden, mit denen sie den Betrieb ihres Mannes finanzierte, hätte sie in Mannheim eine stattliche Villa kaufen können. Stattdessen gab sie alles für seinen Traum – einen Viertaktmotor, der einen Wagen ohne Pferde antreiben sollte. Nach jahrelangen Versuchen war das erste Automobil fertiggestellt. Der Benz Patent-Motorwagen erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von sechzehn Stundenkilometern und besaß einen Einzylinder-Viertaktmotor mit 0,75 Pferdestärken. Das Entscheidende aber war, dass er funktionierte.

Teil 2: Technik

Note 8

1961 beschlossen die USA, einen Mann auf den Mond zu schicken. Dass es ein Mann sein würde, ergab sich im selben Jahr aus der Regelung, dass nur amerikanische Kampfpiloten Astronauten werden durften. Da Frauen nicht als Kampfpiloten zugelassen waren, kamen nur Männer für den Job infrage. Die UdSSR schickte bereits 1963 mit Walentina Tereschkowa eine erste Kosmonautin ins Weltall. Im Unterschied zu allem anderen, was die UdSSR im Weltall anstellte, schien dieses Detail auf die USA jedoch wenig Eindruck zu machen.

Note 9

Die Notwendigkeit ist die Mutter der Erfindung, heißt es, aber es kann nicht schaden, sie mit Elterngeld auszustatten. Der Krieg – oder auch nur die Angst davor – bewegt Staaten dazu, all ihre Ressourcen in die militärische Forschung zu stecken. Wo würden wir heute stehen, wenn wir die Summen, die in die Abschreckungspolitik des Kalten Krieges geflossen sind, in das Abwenden der Klimakrise investiert hätten? Womöglich wären wir der Lösung des Problems ein wenig näher. Dennoch klammern wir uns an die Vorstellung, man müsse dem Erfindergeist mit einem Mindestmaß an Blut und Tod auf die Sprünge helfen.

Note 10

Der technische Fortschritt, glauben wir, müsse mit einer Waffe begonnen haben. Und der erste Erfinder müsse ein Mann gewesen sein. Dabei kann es ebenso gut sein, dass spitze Stöcke ursprünglich von Frauen genutzt wurden, um Nahrung zu sammeln, bevor man sie für die Jagd umfunktioniert hat.

Note 11

Rolle der Frauen:

Es lässt sich nicht genau rekonstruieren, wie es dazu kam, aber irgendwann wurde es unter Menschen üblich, dass Frauen ihre Zeit überwiegend mit der Betreuung von Kleinkindern, der Nahrungszubereitung und der Herstellung von Kleidung verbrachten. Deshalb gehen Wissenschaftler heute davon aus, dass zum Beispiel Mörser und Mahlsteine von Frauen erfunden wurden und dass Frauen Fortschritte beim Sammeln, Transportieren und Zubereiten von Nahrung anstießen. Ebenso lässt es sich aufgrund ihrer Spezialisierung annehmen, dass Frauen die Techniken entwickelten, Nahrung zu räuchern oder sie in Honig oder Salz zu konservieren. Auch Kochen ist Technik. Viele physikalische und chemische Innovationen waren dafür nötig, und das Kochen hat umgekehrt zu anderen technologischen Bereichen wie der Metallgewinnung, dem Töpfern oder dem Färberhandwerk beigetragen oder sie hervorgebracht. Zum Kochen gehören Prozesse und Techniken, die man nicht einfach so entdecken kann – man muss experimentieren, um sie in effiziente, wiederholbare Vorgänge zu überführen. Zur Erfindung des Kochens brauchte es weit mehr als nur jemanden, der ein Schwein ins Lagerfeuer schubste und feststellte, wie gut geröstete Schwarte riecht.

Note 12

Frauen in der Geschichte:

oder eines Tages gebären könnten. Als wäre der Weg durch den Muttermund ins Licht der Welt nicht die universellste menschliche Erfahrung von allen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Geschichte der Technik: Von Männern erfundene Geräte gehen in die Menschheitsgeschichte ein (im Englischen heißt es passenderweise «history»), während man Erfindungen von Frauen im Nischenfach Frauengeschichte abhandelt. Daraus ergibt sich ein kleines Folgeproblem, nämlich dass wir alles, aber auch wirklich alles fehlinterpretieren.

Note 13

Technische Berufe vs “angelernte” Fähigkeiten:

Ist es überhaupt folgerichtig, Berufe, die mithilfe von Gerätschaften ausgeführt werden, mit höheren Honoraren und einem höheren Status auszustatten? Die bloße Tatsache, dass eine Aufgabe den Einsatz von Werkzeug erfordert, macht sie nicht notwendigerweise anspruchsvoller. Eine Hebamme ist in der Lage, mit der Hand in den Geburtskanal zu greifen und die Haltung eines Kindes zu verändern, dessen Schulter im Becken der Mutter feststeckt. Das ist alles andere als kinderleicht, es braucht dazu jahrelange Übung. Doch es gehört nun mal zu unseren Vorannahmen, dass von Hand ausgeführte Arbeiten weniger Können erfordern als die mithilfe von Gerätschaften ausgeführten. «Frauenberufe» werden schon deshalb schlechter bezahlt, weil wir sie nicht als technische Berufe auffassen.

Note 14

Über Teflon:

Einige Jahrzehnte nach der ersten Mondlandung begann sich der Mythos zu verbreiten, wir verdankten die Teflonpfannen in unseren Küchen dem Umstand, dass die NASA das Material für seine Raumfahrzeuge verwendet hatte. Tatsächlich gab es sie schon, lange bevor die NASA Raketen ins Weltall schoss. Eine Französin namens Colette Grégoire kam 1954 auf die Idee, die Beschichtung auf der Angelausrüstung ihres Mannes könnte sich in ihren Bratpfannen als nützlich erweisen. Dieser Einfall machte ihren Mann sehr reich. Das von ihm gegründete Unternehmen Tefal gibt es bis heute.

Note 15

PS vs “Mädchenjahre”:

Das verdanken wir einem Schotten namens James Watt. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte Watt eine verbesserte Version der Dampfmaschine. Als Geschäftsmann wollte er sein neues Produkt natürlich gewinnbringend verkaufen. Aber wie sollte er dessen Vorzüge einem potenziellen Kunden vermitteln, der sich mit Dampfmaschinen gar nicht auskannte? Watt verfiel auf die Idee, seine Innovation in einem Vokabular anzupreisen, das der Käuferschaft vertraut war – daher die Pferde. Sie zogen nämlich üblicherweise die Lasten, die Watts neuartige Dampfmaschine übernehmen sollte. Als Argument für den Erwerb seines Produkts konnte Watt den Interessierten einfach angeben, wie viele Pferde es ersetzen würde.

Watt stellte eine über den Daumen gepeilte Schätzung zur Leistung eines durchschnittlichen Pferdes an und errechnete, wie viele dieser Pferde seine Dampfmaschine ersetzte. Diese neue Messgröße war anschaulich, den Pferden gegenüber allerdings eine Beleidigung: Eine Pferdestärke entspricht nämlich keineswegs der Leistung eines Pferdes. Arial, ein schwedischer Hengst, der in den 1950er-Jahren Berühmtheit erlangte, brachte es auf stolze 12,5 PS. Nun war Arial ein außergewöhnliches Tier, aber auch durchschnittliche Arbeitspferde können durchaus 10 PS erreichen. Davon einmal abgesehen, erschuf Watt eine Maßeinheit, die die Leistung seiner Maschine mit der Leistung derjenigen verglich, die bestimmte Aufgaben bisher übernommen hatten – in diesem Fall die Pferde. Und nach derselben Logik sprach George Stibitz Jahrzehnte später von den «Mädchenjahren».

Note 16

Das Wort computer bezeichnete im Englischen zunächst kein Gerät, sondern einen Beruf. Wer eine Anstellung als computer fand, löste beruflich von morgens bis abends Rechenaufgaben.

Note 17

Die Arbeit der computer galt nicht als intellektuell anspruchsvoll. Genau deshalb begann man die Datenverarbeitung mehr und mehr als Frauenberuf zu betrachten. In den USA wurden die entsprechenden Stellen aufgrund ihres geringen Status auch häufig an Afroamerikaner, Juden und Menschen mit Behinderungen vergeben. Arbeitnehmer, die anderswo ausgeschlossen blieben,

Note 18

Bis dahin waren computer überwiegend Männer. Doch im neuen Jahrhundert entdeckten immer mehr Unternehmen, dass man durch die Beschäftigung von Frauen Geld einsparen konnte. Schließlich konnte man die mit der Hälfte eines Männergehalts abspeisen, ohne dass sie sich darüber beschwerten. Als im Harvard College Observatory Daten aus der Himmelsbeobachtung verarbeitet werden sollten, wurden dafür ausschließlich Frauen engagiert. Der Leiter des Observatoriums klopfte sich für diese kluge Sparmaßnahme kräftig selbst auf die Schulter. Bald arbeiteten im Datenverarbeitungssektor nicht etwa die Vorväter der heutigen Kapuzenpulli-Nerds (mit ihren legendär miserablen Sozialkompetenzen), sondern adrette junge Damen in Korsetts, die von wissenschaftlichen Karrieren träumten.

Note 19

Wie sich herausstellte, waren sie gut darin, und weil sie so gut darin waren, begannen ihre Arbeitgeber, diese Fähigkeit als «natürliche weibliche Eigenschaft» anzusehen. Eine solche natürliche Eigenschaft musste man natürlich nicht wie eine eigens erworbene Qualifikation entlohnen. Diese Denkweise versetzte Frauen in eine ausweglose Lage. Wenn eine Arbeiterin eine Aufgabe nicht beherrschte, galt das als Beweis, dass Frauen insgesamt ein geringerer Lohn zustand: Da seht ihr’s – Frauen können eben nicht arbeiten wie ein Mann! Aber es galt, wie eben beschrieben, auch das genaue Gegenteil: Wenn eine Arbeiterin in etwas besonders gut war, musste auch das als Grund herhalten, Frauen schlecht zu entlohnen. Egal, wie es um ihre Fähigkeiten bestellt war – es ließ sich immer ein Grund für geringere Vergütung finden. Dazu musste man bloß alles, worin Frauen sich hervortaten, als ihre natürliche weibliche Eigenschaft definieren. Dann konnte die Frau schließlich nichts dafür, dass eine biologische Veranlagung ihr half, Strumpfspitzen besonders sauber zu vernähen, Computer zu programmieren oder alte Menschen zu pflegen.

Note 20

und Haushalt kombinieren konnte. In vielerlei Hinsicht, so hieß es, konnte man den Umgang mit Computern als Erweiterung der weiblichen Natur betrachten. Dieses Klischee erweist sich immer wieder als praktisch, wenn es darum geht, niedrige Löhne zu begründen. Wenn die für eine Tätigkeit benötigten Fähigkeiten geradezu der Biologie der Frauen eingeschrieben waren, warum sollte man ihnen dann viel dafür bezahlen?

Note 21

Dieser Denkweise begegnen wir noch heute. Die Gesellschaft greift auf diese Argumentation zurück, wenn es etwa um Altenpflege oder Kinderbetreuung geht. Wir erleben, dass Frauen die entsprechenden Berufe ergreifen und ohne lange institutionelle Ausbildung gut darin werden, und daraus folgern wir, die Stellen seien «gering qualifiziert» und müssten entsprechend nicht allzu hoch dotiert sein. Wenn dagegen Männer ein «natürliches Talent» für irgendetwas mitbringen, gilt das als Argument für das genaue Gegenteil, nämlich dafür, sie reichlich zu vergüten.

Teil 3: Weiblichkeit

Note 22

Dazu passend wurde das erste E-Mail-Protokoll von dem Amerikaner Vint Cerf entwickelt, der schwerhörig war. Cerf verstand den großen Nutzen von E-Mails sofort, denn er konnte damit vom Arbeitsplatz aus mit seiner Familie kommunizieren, ohne dass sie aus vollem Hals in den Telefonhörer schreien mussten. Dass wir unsere Smartphones mit Wischgesten bedienen können, verdanken wir ebenfalls einem Amerikaner: Wayne Westerman litt an Nervenschädigungen an der rechten Hand und konnte daher keine Computermaus bedienen. Also entwickelte er eine Technologie, die es ihm erlaubte, den Cursor mit einem Bedienfeld zu steuern. Diese Erfindung verkaufte er 2005 an Apple. Zwei Jahre darauf präsentierte Steve Jobs der Welt das erste iPhone.

Note 23

ber Prosumer:

In den 2010ern verschwammen die Grenzen zwischen Produktion und Konsum, und seither ist öfter von «Prosumern» oder «Prosumenten» die Rede. In diesem Grenzgebiet siedelten etliche Frauen ihre Unternehmen an. Auch Influencer sind Prosumer. So konsumiert eine Vloggerin zum Beispiel Vitaminpräparate und produziert Werbung dafür, indem sie dokumentiert, wie sie das Mittel einnimmt. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, das Publikum davon zu überzeugen, dass sie die Vitamine auch nehmen würde, wenn sie kein Geld dafür bekäme. Der Trick ist, den Followern zu vermitteln, dass man eine normale Konsumentin ist. Und das ist man ja auch. Und doch wiederum nicht.

Note 24

Über die neuen “Social Media Berufe”:

Auch in Europa sind Frauen oft unzufrieden mit ihren Arbeitsverhältnissen: Eine Anwältin zum Beispiel hat es vielleicht satt, dass sie schlechter bezahlt wird als männliche Kollegen, oder sieht es nicht ein, dass in ihrer Kanzlei zwölf Stunden Büroarbeitszeit erwartet werden. Die technische Entwicklung hat mehr Unternehmerinnen hervorgebracht, weil es leichter geworden ist, ein Unternehmen zu gründen und es von zu Hause aus zu führen. In den 2010ern wurde Unternehmertum sogar als neue Form des Feminismus begrüßt. Am meisten Aufmerksamkeit erfuhren natürlich jene Unternehmerinnen, die wie beschrieben ihren Lebensunterhalt damit verdienten, ihre Konsumentscheidungen öffentlich zu machen und dabei Ausschnitte aus dem Alltagsleben ihrer Familie zu präsentieren. Das war zugleich die Geschäftsidee, die sich am leichtesten mit den weiblichen Rollenerwartungen in Einklang bringen ließ, wenn sie nicht sogar wie eine Fortschreibung dieser Erwartungen wirkte

Note 25

Auch Männer schlagen aus ihren Hobbys Kapital:

Gleichzeitig bieten diese Plattformen auch Möglichkeiten, mit traditionell weiblichen Kompetenzen Geld zu verdienen. Und was ist falsch daran, ein Geschäft auf den eigenen Interessen aufzubauen – auf Schönheitstipps und dem eigenen Haus, auf Kindererziehung, Backrezepten und dem Wunsch, für die Kinder da zu sein, wenn sie aus der Schule kommen? Männliche Promis verurteilen wir ja auch nicht dafür, wenn sie aus ihren Hobbys Kapital schlagen. Man denke nur an George Clooney, der eine halbe Milliarde an seinem Tequila verdient hat.

Note 26

Barry Lord zeigt in «Art & Energy», dass unser Selbstbild eng mit unserem Energieverbrauch verknüpft ist. Die heutige Fixierung auf die Konsumentenrolle verdankt sich dem Zeitalter des Erdöls. Wir werden uns nicht von den fossilen Brennstoffen lösen können, wenn wir nicht zugleich eine neue gesellschaftliche Rolle für uns erfinden. Solange wir uns selbst primär als Konsumenten begreifen, werden wir mögliche Wege aus der Klimakrise gar nicht erst erkennen. Statt die Welt zu konsumieren, müssen wir lernen, sie zu erhalten. Und dabei hilft uns Kylie Jenner eher wenig weiter.

Note 27

Wie wir angefangen haben uns als Konsumenten zu definieren:

Der Autor Barry Lord beschreibt diesen Wandel in seinem Buch «Art & Energy». Beginnend in den Siebzigerjahren und zur selben Zeit, als die Wirtschaft immer stärker vom Erdöl abhängig wurde, gewann unsere Rolle als Konsumenten kulturell an Bedeutung. Das Erdöl befeuerte eine wahre Explosion kostengünstiger Konsumgüter, deren Kauf und Verkauf zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor wurde. Und das beeinflusste wiederum das kulturelle Selbstbild: Wir definierten uns nicht mehr in erster Linie über unser Verhältnis zur Produktion von Waren, sondern als Konsumenten. Das war fortan unser wichtigster Beitrag zum Wirtschaftsgeschehen, und somit war es auch in Krisenzeiten unsere Aufgabe zu konsumieren. Darin lag die Macht des einzelnen Bürgers, und in dem Sinne wurden alle ein Stück weit zu Frauen. Das Kaufhaus hatte uns aufgekauft, könnte man sagen.

Teil 4: Körper

Note 28

Wirtschaftskrise von 2008:

Wirtschaftlich betrachtet, war diese Krise sehr untypisch. Üblicherweise verläuft die Dramaturgie einer Wirtschaftskrise nämlich vom Abstrakten hin zum Konkreten. Die Wirtschaftskrise von 2008 zum Beispiel begann mit Finanzprodukten, die derart komplex waren, dass selbst deren Verkäufer nicht hätten sagen können, woraus sie bestanden. Als den Investoren irgendwann auffiel, dass ihr Goldschatz in Wahrheit aus Krediten bestand, die niemand würde zurückzahlen können, gerieten sie in Panik. Im Tumult kollabierten mehrere amerikanische Banken rasch hintereinander, und dann griff die Krise auf weitere Bereiche der Wirtschaft über. Das hatte katastrophale, ganz konkrete Folgen für die Menschen, die ihre Arbeitsplätze, ihre Ersparnisse, ihre Häuser und in Einzelfällen ihr Leben verloren. So stellen wir uns Wirtschaftskrisen im Allgemeinen vor: Der menschliche Körper kommt sozusagen als Letztes.

Note 29

Das rief uns eindrucksvoll eine schlichte Tatsache ins Gedächtnis: Die Wirtschaft basiert auf dem menschlichen Körper. Jetzt ist es uns allen bewusst, aber erinnern wir uns an den März 2020, als bei dieser revolutionären Entdeckung der Aktienmarkt einbrach. An die Zeit, als ein Wirtschaftsexperte nach dem anderen den Umstand, dass Menschen sich mit Viren anstecken können, als einen schwarzen Schwan (black swan) bezeichnete. Mit anderen Worten: als ein bedeutsames, unwahrscheinliches, nicht vorhersagbares Ereignis. Dabei gehört es zu den Grundtatsachen des menschlichen Daseins, dass Körper einander mit einem Virus infizieren können, dass Menschen verletzlich sind und aufeinander angewiesen. Wie zum Teufel konnten wir das vergessen?

Note 30

Es geht ganz einfach darum, dass wahrer Fortschritt von der Realität ausgehen sollte. Und unsere Realität, das sind menschliche Körper. Unsere Wirtschaft besteht aus menschlichen Körpern. Körpern, die arbeiten, Körpern, die Pflege brauchen, Körpern, die andere Körper hervorbringen. Körpern, die geboren werden, altern und sterben. Die in vielen Stadien ihres Lebens auf Hilfe angewiesen sind und darauf, dass ihre Gesellschaft diese Hilfe ermöglicht.

Note 31

Du wurdest nicht von den Wikingergöttern aus einem Stück Holz geschnitzt. Du bist keine hydraulische Statue, keine Telefonzentrale, kein Computer. Du wurdest strampelnd und schreiend aus einem pulsierenden, blutroten Mutterschoß geboren. Komm damit klar. Und dann schaffe eine Wirtschaft, die auf dem basiert, was wir wirklich wissen.

Note 32

Über vermeintlich “sichere” Jobs:

Wenn Maschinen Menschen in der Fabrik ersetzen können, aber nicht bei der Raumpflege zu Hause, mag es passieren, dass Putzjobs eines Tages sicherer sind als die Arbeit in Fabriken. Und wenn in den Fabriken mehr Männer arbeiten, in den Haushalten aber mehr Frauen, ahnen wir schon, worauf es hinausläuft

Sie auch Polanyi’s Paradox

Teil 5: Zukunft

Note 33

Über körperliche Intelligenz:

«Elefanten spielen kein Schach», sagt Rodney Brooks. Und trotzdem sind Elefanten verdammt schlau. Sie sind in vielerlei Hinsicht schlauer als der rechenstärkste Computer, wenn auch in anderen Hinsichten dümmer. Kurz gesagt, es ist kompliziert. Hunde scheinen es zu merken, wenn ihr Besitzer traurig ist, während Computer damit Schwierigkeiten haben. Wer von beiden ist also intelligenter? Bloß weil eine Maschine Garri Kasparow im Schach besiegt, heißt das nicht, dass sie im Tennis gegen Serena Williams antreten könnte. An ihr zeigt sich eine andere Form der Intelligenz. Eine körperliche Intelligenz. Und auch darin offenbart sich wieder vieles, das uns als Menschen ausmacht. Aber irgendwie fällt es uns schwer, das zuzugeben.

Note 34

Wird KI wirklich unser Jobs wegnehmen?

Was sollen die nutzlos gewordenen Menschen den ganzen Tag machen? Können wir uns darauf verlassen, dass sie friedlich zu Hause sitzen und Computerspiele spielen? Oder würden sie – Schockschwerenot! – etwa den Aufstand proben? Mit der Heugabel in der Hand ins Silicon Valley ziehen? Politiker wählen, die schlecht fürs Geschäft sind oder die meinen, Tech-Konzerne sollten wie alle anderen Steuern zahlen? Wird die «nutzlose Klasse» auf die Straße gehen und fliegende Autos demolieren? Muss dann die Elite in selbstversorgenden, CO2-neutralen Bunkern mit Solardächern und Wachrobotern leben? Bezahlbar wäre es, aber langfristig darin zu wohnen macht wenig Freude, wenn draußen «Krieg den Palästen» gerufen wird.

Note 35

Dabei wissen wir schon lange, dass weder IQ-Tests noch Schulnoten den Karriereerfolg einer Person zuverlässig voraussagen. Es gibt andere Faktoren, die eine Rolle spielen. Können Maschinen auch die replizieren? Schließlich finden sich darunter genau die Dinge, mit denen sich Maschinen so schwertun:* emotionale Intelligenz, die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen, andere zu verstehen, die Dynamik einer Begegnung richtig einzuschätzen und zu nutzen; das Vermögen, aus anderen das Beste herauszuholen und zu begreifen, was in einer Gruppe vor sich geht – all das also, was wir gern etwas herablassend unter «Soft Skills» zusammenfassen*.

Männliche Zukunftsforscher sind schnell mit der These bei der Hand, dass das Spiel für die gesamte Menschheit gelaufen sei, sobald Maschinen einen höheren Intelligenzquotienten erreichten. Doch die «Wissensökonomie» basiert in Wahrheit auf etlichen Faktoren, die Experten gern übersehen. Sie ist eben auch eine «Beziehungsökonomie» und eine «Fürsorgeökonomie». Die wirtschaftliche Dynamik speist sich nicht nur aus Körperkraft oder Geistesstärke. Qualitäten wie Fürsorglichkeit, Vertrauensbildung, Verständnis und ein angemessener emotionaler Umgang mit verschiedensten Menschen und Situationen sind Teil eines jeden Wirtschaftssystems. In fast jedem Arbeitsumfeld spielen sie eine bedeutende Rolle. Dennoch sehen wir «Soft Skills» nicht als vollwertige Qualifikationen an. Und zwar deshalb, weil wir sie als feminin verbuchen.

Note 36

Drei Berecieh für den Einsatz von KI:

Hier werden meist drei Bereiche genannt, und über den ersten haben wir in Kapitel 8 gesprochen: Roboter haben Probleme mit vielen Bewegungsabläufen, die wir Menschen vollführen, ohne nachzudenken. Das Polanyi-Paradoxon ist auch auf dem Arbeitsmarkt von Bedeutung. Es ist einfacher, Garri Kasparows Form von Intelligenz zu automatisieren als die von Serena Williams.

Der zweite Bereich: Wer weiß, was technologisch in den kommenden Jahrzehnten möglich sein wird? Aber bisher sind Menschen den Robotern weit überlegen in Tätigkeiten, die Kreativität erfordern. Wer Schwierigkeiten hat, seine täglichen Arbeitsabläufe in wenigen, einfachen Sätzen zu beschreiben, wird vermutlich nicht allzu bald durch Algorithmen ersetzt.

Drittens haben Maschinen Mühe bei allem, was emotionale Intelligenz erfordert. Unsere menschliche Gefühlswelt eröffnet uns Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt ausgesprochen wichtig sind. Wer im Beruf hauptsächlich damit befasst ist, andere zu betreuen, andere von etwas zu überzeugen oder auch nur mit anderen zu kommunizieren, darf sich einigermaßen sicher fühlen. Die meisten Analysen kommen zu dem Schluss, dass Maschinen bis auf Weiteres nicht als Pflegekräfte, Erzieher, Psychiaterinnen oder Sozialarbeiter zum Einsatz kommen werden.

Note 37

Allerdings können wir uns nicht vorstellen, ein Krankenhaus vollständig zu automatisieren, anders als, sagen wir, bei einem Zeitungskiosk oder einem Bahnhof. Auch gute Kinderbetreuung können vermutlich nur Menschen leisten. So sind etliche Wirtschaftsanalysen der letzten Jahre zu dem Schluss gekommen, dass die Wahrscheinlichkeit des Stellenverlusts durch Automatisierung in männlich dominierten Branchen höher ist als in weiblich dominierten. Je höher die Frauenquote in einem Beruf, so die Einschätzung mancher Experten, desto geringer das Risiko, dass die Arbeitsplätze von Robotern übernommen werden.

Note 38

Wir sind es nicht gewohnt, uns bewusst zu machen, wie bedeutend Gefühle, Beziehungen, Empathie und menschliche Nähe für unsere Wirtschaft sind. Und wie grundlegend für die Menschheit als Ganzes. Wir sehen sie eher als Sahnehäubchen, als Extra, das zu allem anderen dazukommen kann – und nicht als die vielleicht fundamentalste soziale Infrastruktur überhaupt. Aber genau das sind sie. Zu dieser Erkenntnis könnten uns eines Tages die Roboter verhelfen, und darin liegt das Potenzial der neuen Technologien: uns nicht zu entmenschlichen, sondern menschlicher zu machen.

Note 39

Über den Teufel und die Hexen:

Es scheint, als hätten die großen europäischen Hexenprozesse auch das Wesen des Teufels verändert. Davor nahm er meist die Gestalt kleiner Dämonen an – die natürlich böse und lästig waren, aber nichts, was man nicht mit ein paar kräftigen Spritzern Weihwasser hätte vertreiben können. Der Teufel war ein Diener, den man herbeirufen konnte, damit er schlimme Taten vollbrachte, und da die Menschen ihn selbst beauftragten, hatten sie zumindest ein wenig Kontrolle. Mit den Hexenprozessen im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert änderte sich das. Plötzlich waren Frauen die Übeltäterinnen – also gingen die Männer davon aus, dass nicht sie den Teufel zu sich beordert hatten, sondern umgekehrt. Der Teufel brannte der Hexe sein Mal ein und hatte gewalttätigen Sex mit ihr, und von da an war sie seine Dienerin und er ihr Zuhälter, Herr und Besitzer in schrecklicher Personalunion. Es war anscheinend so wichtig, die Frau als dem Mann untergeordnet zu zeigen, dass selbst diejenigen, denen man machtvolle Schadenszauber zutraute, einer männlichen Macht hörig sein mussten. So begann der Teufel eine größere Rolle zu spielen: Die Hexen brauchten eben einen männlichen Chef.

Note 40

Wie oben beschrieben, begreifen wir die Natur schon seit Jahrtausenden als weiblich – als dunkel, trügerisch, erschreckend, unheimlich, unberechenbar und feucht, aber auch in der Lage, aus ihrem Schoß Leben hervorzubringen. Mutter Natur ist in unserer Kultur definitiv eine Frau. Der Mann hat traditionell den Auftrag, die Natur unter Kontrolle zu bringen und ihre Früchte zu ernten, sich durch schiere Dominanz über die Natur zu erheben. Wenn dabei etwas schiefgeht – wenn ihn ein Sturm an fremde Gestade treibt oder Insekten die Ernten anknabbern –, wird häufig davon ausgegangen, die «weibliche» Natur sei vom rechten Weg abgekommen und der Mann müsse sie wieder auf die Spur bringen. Wenn nötig, mit Gewalt. Genau das versuchte auch König Jakob von Schottland nach jenen tückischen Stürmen. Indem er Frauen verbrennen ließ, versuchte er die männliche Herrschaft über die Natur wiederherzustellen. Und über das Leben.

Note 41

Ein echter Mann zu sein bedeutet, die Natur seinem Willen zu unterwerfen – und nicht zu ihren Gunsten Kompromisse einzugehen. Letzteres scheint aber genau das zu sein, was die Klimakrise von uns fordert.

Note 42

Als Frauen Computer programmierten, galt das als etwas, zu dem jede und jeder fähig war; als Männer anfingen, sich damit zu beschäftigen, brauchte es plötzlich ein geniales Nerd-Gehirn, das vor lauter Brillanz kaum in der Lage war, den dazugehörigen Körper unter eine Dusche zu bewegen, von einfachsten sozialen Kompetenzen ganz zu schweigen.

Note 43

Der Magier vs. Die Hexe (und warum wir die Hexe brauchen):

Die Hexe sucht die Nähe magischer Pflanzen und will sie verstehen, aber nicht nur ihrer Kräfte wegen, sondern weil ihr diese Nähe etwas bedeutet. Den Zauberer dagegen interessiert so etwas wenig. Ihm geht es in der Anwendung von Magie nur um die Macht, die sie ihm verleiht – und nicht darum, Kontakt zu sich selbst, seinem Körper oder dem Kosmos aufzunehmen. Er steht eher unserer heutigen Auffassung von Technik nahe. Und genau deshalb brauchen wir die Hexe. Nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie für etwas sehr Wichtiges steht: für eine andere Herangehensweise.