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Hier sind meine Notizen, teilweise Zitate aus dem Buch, aber auch größere Abschnitte mit diversen LLMs zusammengefasst:

Einleitung

Cleavages

Cleavages (Konfliktlinien) sind historisch bedingte soziale oder kulturelle Trennlinien, die Bürger innerhalb einer Gesellschaft in Gruppen mit unterschiedlichen politischen Interessen teilen. Dies führt zu politischen Konflikten zwischen diesen Gruppen. Die Cleavage-Theorie argumentiert, dass politische Konfliktlinien hauptsächlich das Parteiensystem eines Landes sowie das individuelle Wahlverhalten der Bürger bestimmen und sie in Wählerblöcke aufteilen.

Häufige Beispiele für Cleavages sind:

Cleavages können sowohl eine Quelle von Konflikten als auch von Zusammenarbeit in der Gesellschaft sein. Sie können zu politischer Instabilität und Gewalt führen, aber sie können auch Menschen dazu motivieren, sich zu organisieren und für ihre Interessen einzutreten.

Arenen der Ungleichheitskonflikte

Warum Arenas

Zitat

Der Begriff “Arena” wurde gewählt, weil er einen Ort des (Wett-)Kampfes vor Zuschauern bezeichnet. In Arenen wird gewetteifert, gestritten und angefeuert, Loyalitäten bilden sich aus und vertiefen sich. Die Autoren des Buches “Arenen der Ungleichheitskonflikte” verwenden den Begriff “Arena”, um die verschiedenen Bereiche zu beschreiben, in denen Ungleichheitskonflikte ausgetragen werden. Diese Arenen können sich in der realen Welt befinden, z. B. am Arbeitsplatz, in der Schule oder im öffentlichen Raum. Sie können aber auch virtuell sein, z. B. in sozialen Medien oder Online-Foren. Die Wahl des Begriffs “Arena” verdeutlicht, dass Ungleichheitskonflikte oft einen kompetitiven Charakter haben. Es geht darum, die eigenen Interessen gegen die Interessen anderer durchzusetzen. Dabei werden unterschiedliche Ressourcen eingesetzt, z. B. Macht, Wissen oder Geld. Der Begriff “Arena” impliziert auch, dass Ungleichheitskonflikte öffentlich ausgetragen werden. Sie finden vor den Augen der Öffentlichkeit statt und werden von dieser beobachtet und kommentiert. Dies kann den Druck auf die Beteiligten erhöhen und die Konflikte verschärfen. Gleichzeitig bietet die Öffentlichkeit den Beteiligten aber auch die Möglichkeit, sich zu vernetzen und ihre Interessen zu vertreten. In Arenen können sich soziale Bewegungen bilden und für Veränderungen kämpfen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff “Arena” einen treffenden Ausdruck für die verschiedenen Aspekte von Ungleichheitskonflikten darstellt. Er verdeutlicht den kompetitiven Charakter dieser Konflikte, ihre Öffentlichkeit und das Potenzial für soziale Veränderung.

Typologie

Klassenschema nach Daniel Oesch

Oben-Unten-Ungleichheiten

Notiz 1

Verberbung als Reproduktion von Ungleichheit:

Nach 1989 deutlich geöffnet. Im Jahr 2021 besaß das reichste Zehntel fast 60 Prozent der Vermögen, die ärmere Hälfte nur knapp über drei Prozent. 10 Nach dieser Metrik ist Deutschland heute eines der EU-Länder mit der größten Vermögensungleichheit, die Konzentration liegt gleichauf mit der in Indien." Ein großer Anteil wird dabei nicht erarbeitet, sondern vererbt - ein zentraler Mechanismus der Reproduktion von Ungleichheit. Denn große Erbschaften - >>unverdiente Vermögen<< - erhalten typischerweise jene, die bereits vermögend sind und hohe Einkommen erzielen. Sie erben nicht nur häufiger, die vermachten Summen sind auch besonders hoch

Notiz 2

Nicht imstande Widerstand zu leisten:

Immer wieder gibt es Streiks und Sozialproteste, Kürzungspläne stoßen auf Gegenwehr, im Zuge der jüngsten Krisen wird um den Ausgleich besonders eklatanter Schieflagen gerungen. Doch alles in allem hält sich die klassenkämpferische Dynamik in Grenzen; selbst exzessive Gewinne wohlhabender Gruppen auf Immobilien-, Finanz- und Technologiemärkten lösen nicht jene Art von Widerstand aus, mit der sich das Ruder politisch herumreißen ließe. » Kämpfe für Gleichheit, die einst progressive Steuersysteme und sozialstaatliche Sicherung hervorbrachten, sind zwar nicht zum Stillstand gekommen, scheinen aber doch in einer Flaute zu stecken. Der Frosch bleibt ruhig. Warum ist das so? Sozialwissenschaftlich ist es jedenfalls eine bedeutsame Frage, warum aus wachsender Ungleichheit keine linke Mobilisierung folgt und warum oft rechte politische Unternehmer davon profitieren

Märkte und Klassen

Notiz 3

Rendite aus Kapital vs Einkommen aus Erwerbsarbeit:

Die Verteilung dieser Ressourcen hängt primär an Märkten und Besitzverhältnissen. Trotz aller Veränderungen seit Marx’ oder Webers Tagen bleibt die von ihnen beschriebene Logik des Kapitalismus gültig, nach der das Eigentum an Firmen, Land und Rohstoffen in wenigen privaten Händen liegt, während die Mehrheit die eigene Arbeitskraft möglichst einträglich auf den Markt bringen muss." Nur wer über Kapital verfügt, wird zum Markteilhaber und kann von der Arbeit anderer profitieren, der Rest muss sich als Markteilnehmer durchsetzen. Spätestens mit Thomas Pikettys Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert wurde diese Form der Ungleichheit wieder ins öffentliche Bewusstsein katapultiert." Piketty zeigt, dass Renditen auf Kapital schneller wachsen als die Wirtschaft als Ganzes und damit schneller als Einkommen aus Erwerbsarbeit.

Tücken der Meritokratie

Notiz 4

Kernthese: Meritokratie, das Prinzip der Belohnung nach Leistung, ist eine verbreitete Legitimation von Ungleichheit. Sie suggeriert, dass Erfolg durch individuelle Anstrengung und Talent verdient wird, und soziale Ungleichheiten daher gerechtfertigt sind. Probleme der Meritokratie:

Fazit: Meritokratie ist ein komplexes Konzept mit fragwürdigen Implikationen. Es ist wichtig, die Grenzen der Meritokratie zu erkennen und ihre negativen Auswirkungen auf soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt kritisch zu hinterfragen. Zusätzliche Punkte:

Das Paradox

Meritokratie als Hemmschuh politischer Mobilisierung für mehr Gleichheit:

Da wir es mit einer Legitimationsideologie ungleicher Verteilung zu tun haben, würde man bei dieser Frage einen starken sozialen Gradienten erwarten, bei dem Personen in höheren Positionen die Vorstellung des verdienten Aufstiegs am meisten verinnerlicht haben. Dies ist aber mitnichten so: Das meritokratische Prinzip findet in den unteren Klassen die stärkste Unterstützung, insbesondere bei den Produktionsarbeitern, den Dienstleistungsarbeitern und den kleinen Gewerbetreibenden ohne Angestellten (also etwa Kioskbesitzern).

Erwa die Hälfte der Produktionsarbeiter und der Geringgebildeten ist der ungleichheitskritischen Meinung, die Einkommens- und Vermögensunterschiede seien zu groß, und stimmt gleichzeitig der ungleichheitlegitimierenden Aussage zu, dass es >auf die eigene Anstrengung ankommt, ob man im Leben etwas erreicht«, Diese Akzeptanz der Leistungsgesellschaft ist zweifellos einer der wichtigsten Hemmschuhe politischer Mobilisierung für mehr Gleichheit

Schmarotzer

Man kann vermuten, dass sich oft diejenigen am eifrigsten nach unten abgrenzen, die sich in ihrer Anerkennung am unsichersten fühlen. Hier geht es eher um kulturelle und normative Fragen von Respekt und Sozialprestige, weniger um »gerechte Einkommen im engeren Sinne um die Reklamation eines Status innerhalb einer moralisch aufgeladenen Anerkennungshierarchie. In diesem Kontext scheinen leistungslose Transfereinkommen in den Augen derjenigen besonders skandalös, die für geringen Verdienst viel leisten müssen. Die Disziplinierung realer oder vermeintlicher Schmarotzer dient so auch der Hervorhebung der eigenen, allzu oft unerkannt und nicht honoriert bleibenden Mühen.

Demobilisierte Klassengesellschaft

Welches Gesamtbild ergibt sich nun angesichts dieser verschiedenen Puzzleteile? Geht die Rückkehr der Ungleichheit mit klassengesellschaftlichen Bewusstseinsformen oder gar einer Intensivierung entsprechender Konflikte einher? Wir beobachten in unserem empirischen Material ein insgesamt paradoxes Muster, bei dem eine ausgeprägte Ungleichheitskritik und ein generelles -Unbehagen an Ungleichheit durch eine relative Zufriedenheit mit der eigenen Lage, durch Meritokratieglauben, moralisierte Anspruchskonkurrenz und individuelle Investitionsstrategien konterkariert wird. Hier scheint eine gewisse - schon früher diagnostizierte - Erschöpfung der utopischen Energien (Jürgen Habermas)" des Wohlfahrtsstaates zum Ausdruck zu kommen, die den demokratischen Klassenkampf lähmt. Dass sich mit ihm viele Probleme lösen ließen und dass das Gleichheitsziel durch Umverteilung erreichbar sei, glaubt nur noch ein Teil der Bevölkerung.

Ein solcher Befund lässt sich durch die Brille von Klaus Dörres These der demobilisierten Klassengesellschaft weiter ausbuchstabieren." Dabei geht es um die Entpolitisierung der Klassenfrage, die Schwierigkeiten der Organisation kollektiver Interessen sowie die Intensivierung horizontaler Konkurrenz und Distinktion zwischen lohnabhängigen Fraktionen (wie beispielsweise den Prekären und der Facharbeiterschaft). Als wichtige Einflussgröße ist die Veränderung politischer Rahmenbedingungen zu benennen:

  • Der Verlust von Machtressourcen in Form abnehmender gewerkschaftlicher Organisation
  • aber auch die politische Demobilisierung und
  • die Zerfaserung von Milieus sorgen dafür

dass entsprechende Spannungen zwar erlebt, aber nicht klassenförmig ausgetragen werden. Die Diagnose der demobilisierten Klassengesellschaft konstatiert den Bruch eines zentralen Transmissionsriemens des demokratischen Klassenkampfes, der eben auch darauf aufbaute, dass den ökonomischen Verlierern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Form von Parteien

Gewerkschaften verlieren an Macht:

Gewerkschaften haben im Lauf der Zeit nicht nur immer mehr Mitglieder verloren, sondern zugleich an sozialer Inklusivität eingebüßt, da statusschwache Gruppen und kleine Einkommensbezieher dort heute eine geringere Rolle spielen. Gewerkschaftliche Mobilisie- rung wird zudem offenbar immer seltener als effektives Mittel der Marktkorrektur und der kollektiven wie individuellen Einkommens- verbesserung wahrgenommen. Tatsächlich werden die Gewerkschaften in den vielen Stunden unserer Gruppendiskussionen nur ein einziges Mal erwähnt - und bei der Gelegenheit für ihre Ineffektivität kritisiert. Der schleichende Verfall korporatistischer Arbeitsmarktinstitutionen und die nachlassende Durchsetzungsfähigkeit von Arbeitnehmerorganisationen werden von einem relativen Bedeutungsverlust der industriellen Arbeiterschaft als Wählergruppe begleitet."

Argumentative Repertoires in der Oben-Unten-Arena

Innen-Außen-Ungleichheiten

Kampf um Grenzen

Zitat

Beschrieben wird diese neue Konflik achse als der schon benannte > Globalisierungs-Cleavage", also als eine neue strukturell und politisch mobilisierbare Auseinandersetzung zwi schen denen, die Globalisierung und Migration befürworten, und je- nen, die durch Öffnungsprozesse verlieren bzw. diese ablehnen. Po litisch sind Parteien auf den Plan getreten, die sich in erster Linie über ihre Positionierung am Pol von Offenheit, Inklusion und Universalis- mus oder am Pol der Schließung definieren. Im Hinblick auf gesell- schaftliche Gruppen wird dieser Konflikt typischerweise als Ausein- andersetzung zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten oder Nativisten und »Globalisten beschrieben. Kosmopoliten werden mit Weltläufigkeit, kultureller Offenheit und einem Denken und Handeln in globalisierten Zusammenhängen verbunden; ihnen stehen die Kommunitaristen gegenüber, die sich angeblich an die na- tionalstaatliche Scholle klammern und ethnonationalistischen Vor- stellungen frönen. Diese Orientierungen sind nicht allein auf Werte oder Kultur zurückzuführen, sie können ebenso mit unterschied lichen ökonomischen Ausstattungen verbunden sein, die Offnungen eher als Gewinn oder als Verlust begreifen lassen." Die Literatur legt hierzu nahe, dass es vor allem die einkommens starken und besser gebildeten Gruppen sind, die dem kosmopolar schen Pol zuneigen, während die Schließungsorientierung eher eine Sache der einfachen und weniger gebildeten Schichten ist. Letztere trügen die Hauptlasten offener Grenzen im Wohnquartier, dem Wo rungs- und Arbeitsmarkt, den Schulen sowie im Alltags- und Be rufslebens. Insofern, so meinen manche, seien die Schließungs suke dieser Schichten zwar kulturell möglicherweise obskur, h auch ökonomisch rational.

Kritik immer nach “unten”:

Klaus Kraemer formuliert die Annahme so: Verteilungskonflikte würden in der nationalen Containergesellschaft nicht nach oben ausgetragen […], um etwa cine andere, gerechtere Verteilung von Lebenschancen zwischen oben und unten zu erstreiten. Vielmehr richten sich diese Konflikte gegen Ausländer und Zuwanderer, also nach unten und nach außen.

Argumentative Repertoires in der Innen-Aussen-Arena

Migration:

Wir-Sie-Ungleichheiten

Exklusive Inklusivität?

Durch Sprache ausschließen:

Mit der Akademisierung identitätspolitischer Diskurse entsteht ein Dilemma der exklusiven Inklusivität. Das Ziel der sprachlichen Einbeziehung weiterer Gruppen gerät in Konflikt mit der sozialen Einbeziehung. So ergibt sich das Problem, dass Sprache zwar semantisch einschließen, aber zugleich sozial ausschließen kann. Dies wäre der Fall, wenn auf der einen Seite legitimen Forde rungen nach Sichtbarkeit auch in der Sprache Rechnung getragen wird, die veränderten Praktiken aber vor allem durch bildungsmäßig besser gestellte Gruppen eingebracht werden und von anderen als ausschließende und Distinktion erzeugende Sprech- und Schreib- weisen - letztlich als Soziolekt - interpretiert werden

Notiz 1

Zitat

(Die Zurückweisung von Anerkennungsforderungen marginalisierter Gruppen speist sich einerseits aus diskriminierenden Affekten, andererseits aber auch aus wahrgenommenen Identitätsbedrohungen. Durch die anerkennungspolitische Stärkung alternativer Identitäts- modelle kommt es aus der Sicht einiger zu einer indirekten Entwertung eigener Lebensentwürfe und Vorstellungen vom »richtigen und guten Leben. Anders ausgedrückt, werden anhand der Frage symbolischer Aufwertungen ehemals ausgeschlossener Minderheiten eigene Anerkennungsdefizite thematisiert. Im Lichte eines restriktiv-universalistischen Verständnisses von Gleichstellung werden Vorbehalte gegenüber überzogenen Ansprüchen<«, partikularistischen Forderungen oder Sonderrechten geäußert und aktivistische Positionen als laut, aufdringlich und überzogen zurückgewiesen, wenn sie zu stark dem Alltagsverstand widersprechen. Wir sahen sowohl beim Gendern als auch bei der Tabuisierung rassistischer Begriffe und der Umbenennung von Straßen, dass eine in erster Linie auf Sprache setzende Antidiskriminierungspolitik auf starke Vorbehalte trifft.

Argumentative Repertoires in der Wir-Sie-Arena

Heute-Morgen-Ungleichheiten

Zitat 1

Gerade Landbewohner pochen etwa auf die Alternativlosigkeit des Autofahrens. Forderungen nach einer Umstellung des individuellen Alltags werden mit dem Hinweis auf begrenzte finanzielle Mittel gekontert. Mitunter zeichne sich hier eine Art » Ökologie des Zwangs ab: Eingeschränkte Möglichkeiten führten demnach ohnehin zu einem sparsamen Verbrauch. Zugleich werden ausgiebiger Konsum und Mobilität als Bestandteile eines guten Lebens weiterhin angestrebt. Politische Lenkung etwa durch Steuern oder Preise erscheint als Be- vorteilung derer, die sich dies leisten können. In der ökologisch bewussten oberen Mittelschicht hingegen gilt die verantwortungsbewusste Begrenzung des eigenen Fußabdrucks als zentraler Hebel der Veränderung.

Zitat 2

Immerhin tragen gerade die gebildeten Fraktionen der Mittelschicht durch ihr privates und berufliches Reiseverhalten überproportional zum CO-Ausstoß bei." Die moralisierte Abgrenzung über einen nachhaltigen Lebensstil dient auch der Distinktion, die von den verursachten ökologischen Schäden konterkariert wird

Konsum von westlichen Ländern ist maßgebend:

In Europa beispielsweise emittieren die unteren so (???) Prozent der Einkommensverteilung pro Kopf jährlich etwa fünf Tonnen CO wahrend die obersten 10 Prozent auf 27 Tonnen kommen." Auch in Deutschland ist der Abstand zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommens- und Bildungsgruppen groß. Tatsächlich müssten sich die ärmeren Haushalte selbst in den westlichen Industrienationen kaum umstellen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen; der Konsum und die Investitionen von Superreichen sind hingegen wichtige Emissionstreiber

Leitfragen:

fim Folgenden blicken wir empirisch auf die komplexen Zusam menhänge von Umweltkonflikten und gesellschaftlicher Ungleichheit: Stehen sich in dieser Arena Klimaschützer und Klimaleugner ganz unabhängig von ihrer sozialen Position gegenüber? Oder gibt es tatsächlich grundverschiedene, vielleicht gar konträre Ökologien der Reichen und der Armen? Ist es ein Privileg der Sanftgebetteten, sich um das Ende der Welt zu sorgen, während anderen mit Blick in die Haushaltskasse das Ende des Monats bedrohlicher erscheint? Zieht ein Klimakonflikt der sozialen Klassen herauf? Oder kommt es möglicherweise zur Formierung neuer ökologischer Klassen (so cin Begriff von Nikolaj Schultz und Bruno Latour

Klimapolitische Spaltungslinien

Zitat

Ein Drittel der Bevölkerung etwa sieht >>unseren Wohlstand gefährdet, wenn wir jetzt wegen des Klimawandels alles auf den Prüfstand stellen. Eine verwandte Befürchtung lautet, Deutschland könne im globalen Wettbewerb das Nachsehen haben, wenn der Klimaschutz hierzulande wichtiger genommen werde als anderswo: 40 Prozent sind hier der Meinung, dass Deutschland schon viel für den Klimawandel getan habe und nun erst einmal andere Länder nachziehen müssten. Dies sind - gemessen an unserem Index - stark polarisierte Themen. In den Alltag eingreifende Maßnah- men wie der Bau von Windrädern in der Nähe von Ortschaften und als Zumutung empfundene Appelle, umweltbewusster zu leben erreichen ebenfalls vergleichsweise hohe Polarisierungswerte. Die Klimaarena ist alles andere als eindimensional; Lebensweise und Standortnationalismus, Gerechtigkeit und Besitzstandwahrung evo- zieren ganz unterschiedlich gelagerte Konflikte, die im Großkom- plex ökologische Transformation zusammenkommen

Zitat

Unsere Grundannahme lautet, dass sich die ökologische Frage zu- nebmend als Klassenfrage stellen wird: Wir haben es hier mit einer Klassenfrage im Werden zu tun. Vier Aspekte dieses Zusammen- hangs wollen wir im Folgenden vertiefen. Erstens ist zwar der Klima- wandel menschengemacht, bei seiner Verursachung gibt es aber be- deutende soziale Unterschiede. Die Erwärmung des Klimas wird von oben befeuert, sowohl im nationalen Rahmen als auch im globa- len Maßstab klafft ein Spalt zwischen Arm und Reich. Zweitens ist auch die Betroffenheit in hohem Maße ungleich verteilt. Am offen- sichtlichsten gilt dies im Generationenverhältnis, aber auch zwischen den Klassen sind unterschiedliche Grade der Vulnerabilität vorhan- den, und zwar wiederum sowohl im Weltmaßstab wie im nationalen Kontext. Hier spielt auch die Frage der Anpassungsmöglichkeiten an klimatische Veränderungen hinein. Drittens hat der ökologische Umbau starke Auswirkungen auf die Lebenschancen. Es kommt zu sozioökonomischen Transformationskosten und zu Eingriffen in die Lebensweise jedes und jeder Einzelnen. Alltägliche Dinge wie Mobilität, Wohnen, Konsum, Arbeit, Ernährung, Infrastruktur und Freizeit kommen auf den Prüfstand und werden möglicherweise teurer, weil ökologische Kosten eingepreist werden etc. Diese Kos- ten schlagen klassenspezifisch durch und könnten Verteilungskon- flikte intensivieren. Viertens ergeben sich im Zusammenhang mit nachhaltigen Lebensstilen möglicherweise symbolische Kämpfe zwi schen den Statusgruppen

Ungleiche Betroffenheit oder kollektive Risiken?

Perfiderweise sind die Staaten, die für die größten Emissionen verantwortlich sind, zugleich jene, deren Wohlstand es ihnen noch am ehesten erlaubt, sich vor den Folgen der Erderwärmung zu schützen, zum Beispiel durch die Entwicklung einer klimaresilienten Infrastruktur, den Bau von Deichen oder den Umbau der Metropolen. Zwischen Umweltbelastungen und Ungleichheit ergibt sich eine Art Teufelskreis, da die Ungleich- heit weiter vertieft wird: Benachteiligte Gruppen sind stärker vom Klimawandel beeinträchtigt, ihre Möglichkeiten der Einkommenserzielung und Subsistenz verschlechtern sich weiter, was schließlich zu einer Verfestigung und Verschärfung ihrer prekären Lage führt

Transformationslasten

Klimaschutzmaßnahmen werden hier nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer zukünftigen Ziele betrachtet, sondern unter dem ihrer möglichen Auswirkungen für heutige Alltagsarrangements und den gewohnten Lebensstandard. Diese Umstrittenheit von Zeitwahrnehmungen liegt auch in einer widersprüchlichen Zeitlichkeit des Problems selbst begründet, wie sie die Heute-Morgen-Arena noch stärker als andere Arenen prägt. Die schnelle Umsetzung einer konsequenten Klimaschutzpolitik ist maßgeblich für ihre Erfolgsaussichten, aber eben- diese Schnelligkeit wird als Bedrohung oder sogar als Zumutung wahrgenommen

. Wir finden in unseren Daten zwar Klassenabstufungen in der Besorgnis um den Klimawandel, aber in allen Klassen sind Menschen mit einem ökologischen Krisenbewusstsein in der klaren Mehrheit. Die Klassenstruktur tritt in den ökologischen Einstellungen erst dann stärker hervor, wenn es um die Verknüpfung von Ökologie mit sozialen Fragen der Lastenverteilung und um mögliche Wohlstandsverluste geht

Ökologische Distinction

Jin Kontrast zur bereits erwähnten Ökologie der Arbeiterklasse, die sich um die Frage der finanziellen Verkraftbarkeit dreht, beobachtet Huber in der Ökologie der professionellen Mittelklasse einen starken Fokus auf die Konsumsphäre. Auch aufgrund der großen Distanz wissensbasierter Mittelklassejobs zur Güterproduktion reduziere sich Klimahandeln auf den Ausdruck eines ökologischen Lebensstils mittels individueller Konsumentscheidungen. Dies führte die Diskussion tendenziell weg von den strukturellen Hintergründen der Klimakrise und * hin zu alltagsethischen Fragen von Verzicht und Verschwendung*. Dies war auch in unseren Gruppendiskussionen präsent, etwa wenn Buchhalterin Mareike sagt:

Also ich habe das Gefühl, in meinem Umfeld, also die Mittelschicht, wir tun alle im Moment was und schnallen den Gürtel enger. Leben bewusst und verzichten bewusst. Mein Handy ist zehn Jahre alt, zum Beispiel. […] Und was mich so aufregt, ist, dass viele immer denken: Wenn ich auf Klimaschutz achte, dann muss ich mein Leben umkrempeln und dann geht es mir nicht mehr so gut. Dabei gibt es Verhaltensmuster, die wir mit ganz wenig An- strengung ändern können. Zum Beispiel, wie uns die Werbung immer so suggeriert: Konsum, Konsum, Konsum […]. Wenn man diese Prozesse einfach mal hinterfragt und anfängt, mal darüber nachzudenken, dann kann man ganz viel… den eigenen Fußabdruck reduzieren.

Mareikes Aufforderung zum Nachdenken«, »Hinterfragen und bewussten Leben sowie der Hervorhebung der kulturellen Narrative der Werbeindustrie wird ein weiteres Charakteristikum der moralischen Ökologie der Akademikerklassen offenbar: die Vorstellung, dass vor allem Bewusstsein, Reflexivität und der Kampf um die richtigen Ideen entscheidend seien. Wie wiederum Huber bemerkt, kommt es hier bisweilen zu einer Überschätzung des Faktors Wissen in der Klimapolitik.65 Slogans wie Listen to the science (deutsch: Hört auf die Wissenschaft) finden vor allem bei Menschen Resonanz, die selbst beruflich mit Wissen hantieren, deren sozialer Status auf Bildung und akademischen Qualifikationen beruht oder die sich in Milieus bewegen, in denen Informiertheit und ein reflexiver Selbstbezug (Managerin Chiara: Ich esse bewusst. Ich kaufe bewusst ein) hohen Stellenwert genießen.

Zitat 1

All dies ist relevant, weil akademisch Gebildete zwar tendenziell klimapolitisch tonangebend sind, in der Gesamtbevölkerung aber eine Minderheit darstellen. Der insbesondere in der akademischen Mittelklasse verbreitete Zugang zur Klimapolitik über individuelle Akteurschaft und ethische Zurechnung, heroischen Verzicht, unbedingte Zukunftsorientierung und Bewusstwerdung läuft hier Gefahr, an gänzlich anders gelagerten Ökologien der restlichen Bevölkerung vorbeizureden. Bei Letzteren stehen oft strukturelle Notwendigkei ten im Vordergrund der ethischen Argumentation; neben begrenzten finanziellen Ressourcen werden etwa fehlende Infrastrukturen benannt. Relevanz und Einfluss individueller Lebensstiländerungen werden bezweifelt, der individuelle Spielraum wird als eher klein er- achtet (Ludwig: Na ja, zur Arbeit muss ich. Man hat ja nicht immer so viele Möglichkeiten). Wie wir im nächsten Kapitel eingehender beleuchten, kann dies in zugespitzter Weise in Reaktanz münden, also cinem impulsiven Zurückweisen moralisch-ökologischer Ansprüche an den eigenen Lebensstil, wie es in folgender Äußerung des Sozialarbeiters Jens zum Ausdruck kommt:

Zitat 2

Ich möchte mir nicht vorschreiben lassen, bis ins Kleinste, wie ich in meinem Zuhause zu leben habe. Ich möchte auch weiterhin gerne mein Stück Fleisch essen dürfen. Sicherlich kann man gern auch mal vegetarisch essen. Tue ich dann auch. Aber dass mir das alles noch vorgeschrieben und quasi befohlen wird, dagegen wehre ich mich!

Argumentative Repertoires in der Heute-Morgen-Arena

Triggerpunkte

Zitat 1

Es zielt auf jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen. Physiotherapeuten verstehen unter Triggerpunkten verhärtete Stellen oder verkrampfte Zonen des Körpers. Im Zuge von Übertragungen kann eine Berührung solcher Punkte ein Triggern auch in ganz anderen Körperregionen Schmerz auslösen. Ohne die Analogie zu medizinischen Begriffen überdehnen zu wollen, verstehen wir Triggerpunkte als jene Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Disposi- tionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren

Zitat 2

mik der Triggerpunkte deshalb so wirkungsvoll ist, weil diese in einer Unterstruktur moralischer Überzeugungen, Selbstverständnis- se, Alltagskosmologien und Rechtfertigungsmuster verankert sind, die im Sinne eines impliziten Gesellschaftsvertrags (Barrington Moore) als selbstverständlich wirksam wird. Wo derlei moralische Grunderwartungen verletzt werden, wird eine starke affektive Ladung freigesetzt. Konkret schält sich aus unserer Analyse eine Taxonomie von vier typischen Triggern heraus, die in einer ganzen Reihe thematisch verschiedener Zusammenhänge für eine Erhitzung der Diskussion sorgten: Ungleichbehandlungen, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen. Über alle Ungleichheitsarenen und politischen Orientierungen hinweg, so die im Folgenden entfaltete Analyse, zeigen sich Menschen getriggert, wann immer spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie verletzt werden.

Normalitätsverstösse

Ein Mann kann sagen, So, ich fühle mich jetzt als Fraus, und muss von da an als Frau anerkannt werden. Und darf in meine Um kleidekabine und darf - ich sage es mal ganz deutlich - seinen Penis vor der Nase meiner zwölfjährigen Nichte in der Umkleide. kabine im Schwimmbad wedeln. Das öffnet Tür und Tor für Ver gewaltigung, für Pädophilie und so weiter. Da bin ich dagegen! Da habe ich ein ganz großes Problem damit.

Moralische Panik:

Wir sehen hier eine typische Dynamik, die der südafrikanische So ziologe Stanley Cohen » moralische Panik nennt. Anhand der britischen Jugendlichen-Gangs der “Mods und Rocker, die sich in den sechziger Jahren Prügeleien lieferten, beschreibt Cohen das Phänomen, dass zahlenmäßig eher kleine Gruppen, die von geltenden Normalitätsvorstellungen abweichen, zu umfassenden Verkörperungen sozialer Ängste um Ordnung und Werte stilisiert werden. Selektive Aufmerksamkeit vergrößert das Problem weit über seine tatsächliche Relevanz hinaus. Politiker müssen versprechen, etwas zu unternehmen, es bilden sich Mobs, die selber für Ordnung sorgen wollen, und so weiter. Cohen beschreibt, wie es hier zu einer Übersteigerung der Abweichung kommt: Das verurteilte Fehlverhalten wird in einen umfassenden moralischen Manichäismus eingereiht, in dem die eine Seite zum perfekten Bösewicht stilisiert wird, die andere Seite zum perfekten Opfer und damit auch zur perfekten Identifikationsfigur.

Reaktanz

Sven: Stichwort E-Mobilität. […] Wir werden dazu gezwungen genau wie mit dem Impfen. Also, ich bin kein Impfgegner, ich bin geimpft. Aber wir werden indirekt sozusagen gezwungen! […] Das Problem ist, dass ich sozusagen vom Staat dazu gezwungen werde, mir ein Fahrzeug zu kaufen, das ich gar nicht möchte.

-/ Reaktionen auf Verhaltenszumutungen/:

-/ Konzept der Reaktanz/:

Zitat

Hier geht es nicht-wie bei den vorherigen Triggern - um Ungleichbehandlung, Abweichung oder Kontrollverlust, vielmehr sind hier Verpflichtung, Zwang und Paternalismus ein Stein des Anstoßes, der in allen Arenen zu finden ist und an dem sich Befragte verschiedenster Sozialprofile stoßen. Stellenweise wird der Verhaltenszumutung dabei die Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenverant- wortung entgegengesetzt, üblicherweise bleibt es aber auch hier cher bei einer negativ bestimmten Abwehr überzogener Erwartungen. Die Sozialpsychologie nennt den entsprechenden Impuls Reaktanz.” Gemeint ist damit eine Zurückweisung von Forderungen, die in aller- erster Linie deshalb erfolgt, weil diese als Beschneidung des eigenen Freiheitsspielraums wahrgenommen werden: Ich muss gar nichts. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben ähnliche Be- wusstseinsmuster unter Querdenkern und militanten Migrations- gegnern als Formen eines libertären Autoritarismus. Freiheit, so die beiden, werde hier als individueller Besitzstand missverstan- den und aus ihrer sozialen Bedingtheit herausgelöst. Man begreift sich als radikal frei von den Konventionen und Erwartungen der Ge sellschaft, zugleich glaubt man den insgeheimen Common Sense hinter sich. Momente, in denen diese angestrebte Autonomie Ein-schränkungen erfährt, wie etwa im Zuge staatlicher Interventionen während der Corona-Krise, führen dann zu einer Kränkung. - mit der möglichen Folge eines Umschlagens in autoritäre Aggression.

Man darf nichts mehr sagen

Aus soziologischer Sicht kann man anmerken, dass die getriggerten Teilnehmer so eine zentrale soziale Wahrheit aussprechen: Die Gültigkeit von Normen zeigt sich im Grad ihrer Sank- tionsbewehrtheit. Auch wenn Aussagen nicht im juristischen Sinne verboten sind, wissen die meisten intuitiv sehr genau, wo die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen verlaufen- und für was man irritierte Blicke erntet. Jene, die sich beschweren, dass man heutzutage nichts mehr sagen darf, zielen nicht auf Gesetze ab, sondern auf reale Verschiebungen im Gerüst gesellschaftlicher Normen und sozialer Missbilligung. Versuche, das Unbehagen durch den Hinweis zu widerlegen, dass rein rechtlich ja alles erlaubt sei, führen so zu einem Missverständnis. Beispielhaft zeigt sich das, als der klar links-liberal positionierte Ingenieur Georg in das bereits anzitiert Gespräch interveniert:

Walter: [zuckt mit den Schultern] Man darf ja nix mehr sagen, ne?

Birgit: Ne, darf man nicht.

Sven: Aber ist doch tatsächlich so. Egal welches Thema.

Georg: [kehrt beide Handflächen nach oben] Aber so, wie du es

hörst, darfst du es doch sagen! Du sagst es doch, also darfst du

es doch sagen.

Birgit: [laut] Ja, ne, aber das muss sich ja alles andern! Wir dürfen’s doch nicht mehr sagen.

Georg: Aber du darfst es doch!

Walter: [zeigt mit dem Finger auf Georg] Du darfst nicht beim Ba cker ’n [N-]kuss kaufen! Da wirste gleich, da wirste sofort …

Obwohl Georg hier aufzeigt, dass die Behauptung absurd ist, wenn man sie im buchstäblichen Sinne versteht - natürlich gibt es in der Regel kein offizielles Verbot diskriminierender Begriffe in der Alltagssprache, verpasst er die informelle Sanktionierung und Beschä mung, um die es den Getriggerten eigentlich geht.

Interessanterweise wird die strafende Instanz von den Getriggerten dabei an zwei sehr unterschiedlichen Punkten verortet. Zum einen sind es reale oder fiktive ultraradikale Randgruppen wie beispielsweise Veganer, die ihren Lebensstil den anderen aufzwingen wollen (Torsten), oder die schon erwähnten doch sehr kleinen Minderheiten (Ilko), wegen denen alltägliche Sprechweisen auf unnaturliche Weise hinterfragt werden sollen. Zum anderen wird die Sanktion oft auf einer schwer greifbaren höheren Ebene verortet, die die offiziellen Regeln des akzeptablen Sprechens festlegt und implizit mit beruflichen Vorgesetzten oder Entscheidungsautoritä- ten assoziiert wird:

Walter: Wenn ich einen Behörden-Brief schreibe, muss ich die Sternchen muss ich streng nach Gender-Schreibweise

Birgit: Seid ihr verpflichtet, ja?

Walter: Ja.

Birgit: Männlich/weiblich/divers [lacht]. Oder was gibt’s noch. Mohr. Mohr! Dit haben die ja alles jeändert. Und ich bin noch nicht mal rechts oder links. Also mir ist dis eigentlich egal.

Taxonomie der Trigger

Der soziale Raum der Ungleichheitskonflikte

Eine Repolitisierung der Sozialstruktur:

Zitat 1

Besonders die wertemäßig konservativen, migrationsskeptischen und rechts mobilisierten Fraktionen der alten Industriearbeiterklasse wurden dabei zum Gegenstand intensiven öffentlichen Interesses: Diese mehrheitlich weiße bzw. einheimische und männlich geprägte Arbeiterschaft habe durch den Strukturwandel der Deindustrialisierung, Bildungsexpansion und Transnationalisie- rung (sowie heute möglicherweise auch der Dekarbonisierung) einen kränkenden und desorientierenden Statusverlust erlebt, den sie mit einer erklärten Gegnerschaft zu progressiver Migrations-, Identitäts- und Klimapolitik beantworte. In der Logik dieser Bereiche sind die Gegenspieler der Arbeiter nicht mehr ihre innerbetrieblichen Kon- trahenten, die Arbeitgeber oder Kapitaleigner, sondern die grün, li- beral und kosmopolitisch eingestellte kulturelle Mittelklasse, die oft wissensintensive soziokulturelle Expertenberufe ausübt, vom Struk- turwandel profitiert und auch diskursiv den Ton angibt. Diese drängt die Gesellschaft in Richtung Liberalisierung, sie ist in Wolfgang Merkels Worten - globalisierungsaffin und weist eine kosmopoli- tische Gesinnung auf.]

Zitat 2

In Bezug auf Einstellungsunterschiede zwischen Männern und Frauen sprechen manche gar von einem gender cleavage: Frauen seien aufgrund von Sozialisationsbe- dingungen, Rollenmustern, vergeschlechtlichten Hierarchien und der Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit im Schnitt diskri- minierungssensibler, weltoffener und progressiver. Empirisch gibt es Hinweise darauf, dass Frauen sich größere Sorgen um den Klima- wandel machen, womöglich auch weil vergeschlechtlichte Rollen- muster Aspekte der nichtmateriellen Lebensqualität stärker in den weiblichen Zuständigkeitsbereich verlegen. Bezüglich sexueller Diversität zeigen weibliche Befragte ebenfalls regelmäßig tolerantere und anerkennungsbereitere Einstellungen.

Zitat 3

In Deutschland tritt mit der Unterscheidung zwischen Osten und Westen zudem eine historisch spezifische strukturelle, politische und kulturelle Differenzierungslinie hinzu, die sich trotz enormer Aufhol- und Angleichungsprozesse bislang nicht verwaschen hat. Auch nach über 30 Jahren deutsche Einheit existiert ein Gefälle bei den wichtigen sozioökonomischen Kennziffern (Bruttoinlandsprodukt, Einkommen, Vermögen etc.), aber auch in den politischen Einstel- lungen (Wahlverhalten, Demokratiezufriedenheit, Vertrauen in die Institutionen usw.). Ost- und Westdeutschland sind in den Kartie- rungen verschiedenster Indikatoren deutlich als zwei Teilgesellschaf- ten erkennbar. Der Osten ist im Vergleich zum Westen ein » Land der kleinen Leute. Die Ränge einfacher beruflicher Positionen sind stär- ker besetzt, die akademische Mittelklasse in den Wissens- und Kreativberufen anteilmäßig seltener vertreten. Daneben existieren augenfällige demografische Disparitäten mit Ostdeutschland als über- altertem, teilweise männerdominiertem geografischen Raum, der für mehr als zweieinhalb Jahrzehnte Abstromregion war und bis heute kaum migrantisch geprägt ist. Auch deshalb gilt der Osten als Re- gion mit stark migrationsskeptischen Haltungen, die nicht nur auf die schlechtere ökonomische Lage zurückzuführen sind, sondern auch auf Sozialisationserfahrungen, eine stärkere Verbreitung autori- tärer Haltungen und eine kürzere Migrationsgeschichte. In anderen Bereichen wie der Gleichstellung der Geschlechter oder der Aner- kennung diverser sexueller Identitäten erwies Ostdeutschland sich hingegen bislang nicht als durch die Bank traditioneller und weniger anerkennungsbereit.

Klassenspezifik, nicht Klassenpolarisierung

Daraus ergibt sich bereits ein zentraler Befund: Die Meinungslandschaft ist von einer Klassenspezifik gekennzeichnet, aber nicht von einer Klassenpolarisierung. Damit ist gemeint, dass die Einstellungen in allen vier Arenen systematisch mit der Klassenlage zusammenhängen; keine der Arenen ist aber so verfasst, dass sich zwei Klassen als An- tagonisten gegenüberstehen und gleichsam in entgegengesetzte Richtungen ziehen. Die Extreme der Klassen spannen sich zwischen einer eher ungleichheitskritischen Position und einem unentschiedenen teils, teils auf. Dies passt bestens zu den nuancierteren Be- obachtungen, die wir in den Arenenkapiteln angestellt haben

Die stärksten Klassenunterschiede ergeben sich anhand unseres Indexes im Feld der Heute-Morgen-Ungleichheiten. Wiederum ist es hier dieselbe Trias der akademischen Mittelklassen, die klimapolitischen Interventionen offener gegenübersteht als Dienstleistungs- und allen voran Produktionsarbeitende. Insbesondere die letztgenannten Arbeiter, die häufig in karbonintensiven Sektoren beschäftigt sind, heben sich hier mit ihrer klimapolitisch zurückhaltenden Position ab. Insgesamt ist dabei auch auffällig, wie stark sich die klassenspezifischen Einstellungskonstellationen in der Innen-Außen- und der Heute-Morgen-Arena ähneln. Man kann vermuten, dass die politische Mobilisierung dieser - thematisch eigentlich sehr verschiedenen - Arenen entlang ein und derselben Konfliktsemantik hinter dieser Ähnlichkeit steht

Alte weisse Männer?

in fast allen Arenen ist die Klassenposition das Merkmal, entlang dessen sich die Einstellungen besonders stark unterscheiden. In der Oben-Unten-Arena ist es gar das einzige Merkmal, das Meinungsverschiedenheiten zu einem nennenswerten Grad aufschlüsselt. In der Innen Außen- und der Heute-Morgen-Arena tritt Bildung als zentrale Unterscheidung hinzu (und übertrifft Klasse beim Migrationsthema sogar), in der Wir-Sie-Arena spielt das Alter eine ähnlich große Rolle wie die Klass e. Alles in allem gilt aber auch hier, was wir bereits für die Klassenunterschiede bemerkten: Es gibt zwar spezifische Unterschiede entlang der sozialstrukturellen Merkmale, aber wie schon eo bei den Klassen finden wir für keines der Merkmale Hinweise auf eine klare Polarisierung, bei der bestimmte soziale Großgruppen stark zum konservativen Pol neigen, andere hingegen klar zum progressiven Po l. Dass dies nicht einfach an unserer Messskała liegt, wird-so viel sei bereits hier verraten in Kapitel 10 deutlich, wo wir zeigen, dass die Einstellungen durchaus in ganz unterschiedli che Richtungen ausschlagen, wenn man nicht auf sozialstrukturelle Gruppen, sondern auf die Elektorate schaut

Konfliktraum und soziale Landkarte

Vier verschiedene Gruppierungen basierend auf kulturellem und ökonomischem Kapital:

Zitat

Liberaler Universalismus und Forderungen nach staatlicher Intervention im Sinne sozialer Gerechtigkeit finden sich demnach verstärkt bei Fraktionen der Mittelschicht, deren Klassenposition vor allem über kulturelles Wissenskapital bestimmt ist (idealtypisch: Lehrer), Universalismus und Umverteilungsskepsis dagegen bei jenen, die zwar über kulturelles Kapital verfügen, für deren Stellung aber das ökonomische Kapi- tal entscheidender ist (idealtypisch: Unternehmer). Eher partikularistische Orientierungen und Umverteilungsskepsis vertreten jene mit wenig kulturellem und moderatem ökonomischen Kapital (ideal- typisch: Ladenbesitzer); Partikularismus und Umverteilungsorien tierung finden sich vor allem bei jenen mit geringem bis moderatem kulturellem und ökonomischem Kapital (idealtypisch: Arbeiterin nen und Arbeiter

Affekt und Struktur

Im Folgenden weiten wir das Panorama etwas und schauen auf die sozialen und medialen Wirkhebel der Affektivität, oder anders gesagt: auf die sozialen Strukturen hinter der Emotionalisierung gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Wir orientieren uns dabei an einer Forschungsperspektive, die affektive Polarisierung mit der Durchmischung oder Abkapselung sozialer Kreise in Beziehung setzt, also mit dem Grad der sozialen Sortierung. Emotionale Aufheizung, so die Annahme, wird wahrscheinlicher, wenn man in sozialer und ideologischer Hinsicht nur in der eigenen Suppe schwimmt und nur wenig mit Leuten Umgang hat, die ganz anders leben und denken. Wenn sich die Kreise schließen - man also immer weniger Andersdenkende in der eigenen Umgebung findet, nehmen politische Meinungsverschiedenheiten einen fundamentaleren Charakter an und werden emotional auf schäumender verhandelt. Der Ärger richtet sich dann nicht mehr nur gegen eine fremde Meinung, sondern gegen ihre typischen Träger. die als fremd, unsympathisch, ja feindlich erscheinen

Soziale Sortierung und affektive Polarisierung

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Wenn etwa die Fridays-for-Future- Bewegung als Sekte der Anti-Demokraten bezeichnet wird, wenn Klimaaktivisten als Terroristen verschrien werden oder in Bezug auf Transpersonen von einer Transsexuellen-Lobby die Rede ist, werden laute Töne auf der affektiven Klaviatur angeschlagen, für die bestimmte ideologisch vorsozialisierte Bevölkerungsteile besonders empfänglich sind. Menschen und Diskurse werden auf diese Weise getriggert; die arenenspezifische Polarisierung und die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Aufschaukelung des Konflikts wächst.

Alte und neue Medien

Echokammerthese

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Die promineme Echokammerthese geht von der Existens blasenhaft voneinander abgeschotteter Teilöffentlichkeiten aus, letztlich selbstbe- züglichen und geschlossenen Kreisen der Kommunikation, in denen Meinungen und Vorurteile Bestätigung finden. Dort werde die eige ne Position affirmiert, gespiegelt und verstärkt; eine Konfrontation mit anderen Haltungen, Informationsquellen und ideologischen Be- zügen bleibe tendenziell aus. Inzwischen verdichten sich freilich die Befunde, dass die auf den ersten Blick plausible Hypothese nur mit Einschränkungen zutrifft. So lässt sich zeigen, dass nicht virtuelle Echokammern, sondern im Gegenteil die Konfrontation mit Andersdenkenden zu Erregung führt. Weil die sozialen Medien uns dazu bringen, außerhalb unserer eigenen Blase zu interagieren (etwas, was wir in unseren engeren sozialen Netzwerken in der Offline-Welt nicht unbedingt tun), kommt es zu einer Sortierung entlang ideologischer Differenzierungen: Interagiert man ausschließlich lokal in einem etablierten Netzwerk, trifft man nur selten auf völlig neue Sichtweisen. Interagiert man aber in einem heterogenen und offenen Netzwerk der unendlichen Erreichbarkeit wie in den sozialen Medien, begeg nen einem mehr und vielfältigere Botschaften. Man wird zur Partei- nahme verführt, aufgefordert oder angeregt. Erst dann entsteht, so die Forschung, ein Sog der über Ideologien und Identitäten herge stellten Sortierung. Experimente haben ergeben, dass der Drang zur Abgrenzung durch Exposition verstärkt wird." Das bedeutet, dass soziale Medien uns nicht in Echokammern oder Filterblasen mit Gleichmeinenden einsperren, sondern ein Handgemenge produzieren, indem wir uns selbst durch hoch dynamische Sortiervorgange voneinander abgrenzen.

Nutzung von sozialen Medien:

Anders als vermutet ist die (positive oder negative) Affektivität bei der Nutzung sozialer Medien nicht generell höher, aber die Muster sind dennoch aufschlussreich. Wir sehen, dass Nutzer konventioneller Medien progressiven Sozialfiguren sympathisierender gegenüberstehen. Wer regelmäßig eine gedruckte Zeitung liest oder TV und Radio nutzt, um sich zu informieren, blickt (unabhängig von Alter und Bildung) signifikant positiver auf »Langzeitarbeitslose«, »Feministin- nen bzw. »Transpersonen«, »Grünen-Anhänger oder » Fridays-for- Future-Aktivisten<,45 Diese Personen schätzen zudem die Figur des >>AfD-Anhängers signifikant unsympathischer ein. Wer sich über so- ziale Medien politisch informiert, findet hingegen tendenziell >>Kon- zernlobbyisten«, »SUV-Fahrer« und »AfD-Anhänger sympathischer. Facebook-Nutzer sind zudem positiver gestimmt, wenn es um den >>Migrationsgegner geht, und negativer beim »arabischen Einwanderer

Überforderung als Syndrom:

Die Welt ist immer weniger die Welt, die man kannte und in der man gut zurechtkam, sie erscheint nun vielmehr fremd und zumutungsreich. »Ich komme da nicht mehr mit«, »Ich weiß nicht mehr, was die wollen«, »Wo soll das alles hinführen? oder Das geht mir viel zu schnell sind typische Ausdrucksweisen für diese Gefühlslage.5" Auf einer systematischeren Ebene ist Überforderung als Syndrom gedeutet worden, mit dem komplexe und ausdifferenzierte Gesellschaften unweigerlich konfrontiert sind. Die Zunahme der Komplexität, die Beschleunigung des sozialen Wandels und gesteigerte Anforderungen an die Individuen, mit unübersichtlichen und widersprüchlichen Erwartungen umzugehen, machen das Risiko des Überfordert-Seins in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Ob man mit dieser Grundkonstellation erfolgreich umgehen kann, hängt von einer Reihe von Faktoren ab: kognitiven Kompetenzen, Resilienz sowie vor allem aber ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen - und diese sind in der Gesellschaft ungleich verteilt.

Der politische Raum der Ungleichheitskonflikte

Trotz klarer ideologischer Unterschiede, so viel sei schon verraten, zeigt sich Deutschland hier als Gesellschaft mit Drang zur Mitte und einer deutlich schwächeren Lagerbildung, als man angesichts vieler populärer Diagnosen glauben könnte. Gerade die Unschärfe ideologischer Positionen und das Aufweichen von Parteibindungen öffnet jedoch Türen für eine stimmungsgetriebene Affektpolitik, die Polarisierungsunternehmer gewinnbringend zum Einsatz bringen, allen voran bei der Rechten

Verortung in der Parteilandschaft

Affektpolitik

Zitat

Im Zeitverlauf haben sich die thematischen Register dessen, was politisch verhandelt und zum Streitfall werden kann, massiv ausgeweitet, genau weil das Feld nicht mehr allein von althergebrachten Interessenträgern im Modus der Einhegung und Inobhutnahme bestellt wird. Vielmehr kann jede Fernsehsendung, jeder Blogpost, jeder Tweet zum Zankapfel werden. Misgendert jemand in einem kaum frequentierten Onlineseminar, ergibt sich daraus, geschickt skandalisiert, schnell ein Kommunikationsdesaster. Der belgische Ideenhistoriker Anton Jäger¹ erkennt darin die Symptome einer strukturell ausgehöhlten >>Hyperpolitik«, bei der die kollektive Organisierung zurückgeht, während im Kommunikationsalltag mehr und mehr Gelegenheiten der Politisierung entstehen. Der Markt- platz des Politischen ist damit zu einem kakophonischen und leicht entflammbaren Ort geworden, auf dem die etablierten Parteien manchmal nur hilflos zusehen können, wie andere Akteure mit selbstdefiniertem Mandat Diskurse dominieren, oftmals mit The- men, die aus konventioneller Sicht eher unwahrscheinliche Gegen- stände der Politik darstellen. Gleichzeitig ist oft kaum noch nachzuvollziehen, wie Affekte, Betroffenheiten und Themenkonjunkturen in den Raum des Politischen übersetzt werden. Parteien und Man- datsträger werden von hochschwappenden Themen immer öfter überrascht. Die Gleichzeitigkeit schwacher Interessenorganisation und kurzfristiger affektiver Politisierung leistet einem gelegenheitsuchenden Politikstil im Flackermodus Vorschub. Die etablierten Akteure verlieren die Kontrolle über die Agenda; plötzlich »poppen irgendwelche Themen auf - für die sich unter Umständen schon eine Woche später niemand mehr interessiert. In diesem Kampf um Aufmerksamkeiten spielen Trigger eine große Rolle, weil sie mit Emotio- nalisierungen verbunden sind und Menschen zu dezidierten Positionierungen des Dafür oder Dagegen verleiten. Für die klassischen Parteien ist das mit der Gefahr verbunden, dass symbolpolitisch auf- geladene Ersatzpolitiken mit hoher emotionaler Ladung die von ihnen gesetzten Programmatiken verdrängen

Polarisierungsunternehmer

Zitat 1

(Als Polarisierungsunter- nehmer bezeichnen wir politische Akteure, deren Profilierung pri- mär über die Erzeugung und Kapitalisierung polarisierter Auseinan- dersetzungen erfolgt. Die Verstärkung von Konflikt und politischer Frontenbildung wird von diesen Unternehmern - es können selbst- redend auch Unternehmerinnen sein, siehe Marine Le Pen oder Giorgia Meloni - nicht bloß in Kauf genommen, sondern ist eine Kernkomponente ihrer Strategie. Das fortwährende Bespielen von Freund-Feind-Schemata, die Verunglimpfung und Herabwürdigung politischer und sozialer Gegner und die Entzivilisierung von Dis- kursen spielt im Instrumentenkasten dieser Akteure eine herausge- hobene Rolle. Oftmals sind die Straßen und Pl ätze der außerparla- mentarischen Arena ihre wichtigste Bühne, aber sie sind auch in die Parlamente hineingerückt." Ihr Spezifikum gegenüber den norma- len Zuspitzungen des politischen Wettbewerbs ist, dass das konfron- tative Auseinanderdividieren zum Zwecke der Erzielung elektoraler Polarisierungsdividenden eine zentrale Rolle spielt.).

Zitat 2

Solche Triggerthemen oder -ereignisse fungieren einerseits als >>Aufreger, mit denen man Menschen emotional packen kann, an- dererseits stellen sie über den Einzelfall hinausreichende und wei- ter ausgreifende Chiffren dar, entlang derer politische Differenzen markiert werden können. Diese Chiffren verbinden moralisierten Common Sense mit populistischer Politisierung. Polarisierungsun- ternehmer haben dabei natürlich immer ein Interesse daran, inflam- matorische Einzelthemen so zu überhöhen, dass sie als Positionslich- ter des gesamten politischen Feldes wahrgenommen werden: Wer die sexuellen Übergriffe von migrantischen Gruppen in der Silvester- nacht mit Besorgnis sieht, soll seine Heimat bei den Migrationsskep- tikern und Islamkritikern finden. Wer das Gendersternchen als äs- thetische Zumutung oder unzulängliche Bevormundung empfindet, soll sich bei rechtskonservativen oder traditionalistischen Kreisen gut aufgehoben fühlen.

Zitat 3

Nicht die Gesellschaft spaltet sich, sondern die Außenbezirke der Meinungs- landschaften beschallen zunehmend das viel größere Zentrum. Wa- ren die entsprechenden Bevölkerungssegmente früher in etablierte Interessenorganisationen integriert und damit tendenziell auf lei- se gestellt, sind nunmehr an den Rändern eigenständige, »laute und zuweilen übersteuerte Mobilisierungsformen entstanden, die über Politisierung und Depolitisierung von Themen entscheiden. Die breite gesellschaftliche Mitte ist hingegen entideologisiert und nur schwach parteipolitisch gebunden, was ihre Mobilisierungs- und Ar- tikulationsfähigkeit schwächt. Damit wirkt sie akustisch abgedimmt, sie wird übertönt und ist in der Summe weniger hörbar. Die Kon- fliktformierung im öffentlichen Raum entfaltet sich nun vor allem über die politisierten Ränder, was den - falschen - Eindruck vermit- telt, die Gesellschaft insgesamt zerfalle in zwei oder wenige klar ab- grenzbare Lager. Auf kurze Frist mag eine gefestigte Demokratie dies gut aushalten, aber auch von einer solchen Wahrnehmung kön- nen Allmählichkeitsschäden ausgehen. Die sogenannte »false polari- zation<22 - gemeint ist die allgemeine Wahrnehmung einer gespalte- nen Gesellschaft - verleitet unter Umständen selbst dazu, sich der einen oder der anderen Seite zuzuordnen, und erzeugt so erst die Ge- sellschaft, die man irrtümlich zu beobachten glaubt

Politisierung und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft

Zusammenfassung der aktuellen Lage:

Die Diagnose einer gespaltenen Gesellschaft, so sahen wir eingangs, bestimmt Politikerreden ebenso wie die Kommentarspalten der Zeitungen, Diskussionen in sozialen Medien und das Bauchgefühl vieler Bürger. Der Polarisierungsdiskurs zeichnet das Bild eines Großkonflikts, in dem die Verteilung der Meinungen dem Rücken eines Kamels gleicht: links und rechts zwei Höcker, dazwischen ein tiefes - und sich weiter vertiefendes - Tal: Die gesellschaftlichen Mittelpo- sitionen erodieren, die Ränder wachsen. Diese Höcker stehen nicht nur für ideologische Differenzen, sondern auch für soziale Großgruppen, die bestimmte politische Positionen vertreten. Gern genommene Chiffren sind hier die urbanen Akademiker mit ihren vermeintlich liberalen und kosmopolitischen Einstellungen auf der einen Seite und auf der anderen niedrig gebildete Arbeiter oder Land- bewohner, denen man konservative und kommunitaristische Haltungen zuschreibt. Zwischen ihnen soll sich ein Graben auftun, der die gesellschaftliche Konfliktdynamik wesentlich bestimmt

Nicht Kamel, sondern Dromedar

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Sozialstrukturell ist Deutschland auch heute noch eine mittelschichtsdominierte Gesellschaft, die stark über Erwerbsarbeit integriert ist und deren Sozialstaat zentrale Lebensrisiken recht umfassend kompensiert. Trotz wachsender Vermögenskonzentration am oberen und Prekarisierung am unteren Ende der Hierarchie, trotz drängender sozialer Fragen rund um die Themen Wohnen, Integra- tion und Bildungsgerechtigkeit kann von einem Auseinanderbrechen derzeit nicht die Rede sein. Politisch wirken zudem das Verhältniswahlrecht, die Vielzahl von Koalitionsregierungen und die föderale Struktur einer starken Lagerbildung entgegen. Schon die Taktik schreibt vor, dass auch nach scharfen Wahlkämpfen fast alle mit allen irgendwie können müssen. In unserer Untersuchung sahen wir dies in einer starken Überlappung der Einstellungen und in dem Umstand verkörpert, dass die Wählerinnen eines parteipolitischen Zentrumsblocks kaum Berührungsängste gegenüber den anderen etablierten Parteien haben. Auch die starke Stellung des öffentlichen Rundfunks und der Qualitätsmedien kann als Gegengift gegen die Polarisierung gelten. Zwar verbreiten sich hierzulande ebenfalls Fake News; Zeitungssterben, Prekarität und Stellenabbau schwächen die journalistische Profession, doch hochwertige Berichterstattung und ein relativ inklusiver Diskurs, der Kontroversen in geteilten Selbstverständigungsprozessen bearbeitbar macht, sind nach wie vor vorhanden und von Bedeutung.

Politisierung ohne Polarisierung

Zitat 1

Allerdings gelingt es radikalisierten Diskursakteuren bisweilen sehr gut, Themen mit einer Rahmung und Anspitzung so in die Debatte einzuspeisen, dass Menschen bis weit in die Mitte der Gesellschaft sich zu vehementen Positionierungen herausgefordert fühlen, wodurch sich neue Gefolgschaften bilden und politische Kulturen verschieben können. Mit unserem Konzept der Triggerpunkte haben wir versucht, genauer aufzuschlüsseln, wann und unter welchen Bedingungen dies geschieht, was bestimmte Themen zu »Aufregern<<<> macht und wie das Einverständnis auch in ansonsten eher konsensualen Zusammenhängen in Streit umschlägt. Triggerpunkte sind Sollbruchstellen der Debatte, an denen sich Empörung und Widerspruch, aber auch emphatische Zustimmung artikuliert und die durch eine besondere Emotionalität gekennzeichnet sind. Sie finden sich vor allem dort, wo ungerechte Ungleichbehandlungen als Bruch des Gleichheitsgebotes wahrgenommen werden, wo bestimmte ErWartungen von Normalität herausgefordert oder unterlaufen werden, wo Menschen Entgrenzung und Kontrollverlust fürchten und wo sie politische Maßnahmen als übergriffige Zumutungen empfinden

Zitat 2

Die harten Auseinandersetzungen, die die Bundesrepublik nach 1945 erlebte, geraten dann in Vergessen-heit: die (lange unterbliebene) Aufarbeitung der Naziverbrechen, die Studentenrevolte, die Wutreden von Franz Josef Strauß und Herbert Wehner samt notorischem Kommunismusverdacht, der Radikalenerlass von 1972, die Auseinandersetzungen um Abtreibung, Pershing- Raketen und die Startbahn West, die Konflikte um die Treuhand mit Massendemonstrationen und Hungerstreiks, die Pogrome gegen Asylbewerber und Migrantinnen nach der Wiedervereinigung oder schließlich die Hartz-IV-Reformen und die Proteste gegen sie, in deren Folge sich die Parteienlandschaft veränderte. Die Geschichte der Bundesrepublik ist bei näherem Hinsehen auch eine Konfliktgeschichte, deren historische Trigger heute freilich oft verblasst sind und uns umso fremder werden, je weiter sie zurückliegen. Auch hier gilt, dass selbst vehementer Streit kein Ausweis bedrohlicher Spaltungstendenzen sein muss, sondern durchaus Teil wichtiger Selbstverständigungsprozesse sein kann

Klassenunterschiede

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Plädieren wir in Klassenfragen für eine Differenzierung der Analyse, räumt unsere Studie im Hinblick auf andere Kategorien mit populären Mythen auf, in denen von sozialen Schubladen auf politische Gesinnungen geschlossen wird. Weder stechen »alte weiße Männer laut unseren Daten in der Breite durch besonders reaktionäre Meinungen hervor, noch wird die Konfliktlandschaft nennenswert durch eine Generationenkluft oder ein Stadt-Land-Gefälle strukturiert. Selbst in Klima- und Diversitätsfragen, bei denen vermeintliche Generationenkonflikte in aller Munde sind, gibt es de facto keine groBen Unterschiede zwischen den Jahrgängen. Zu nahezu gleichen Anteilen sind Jüngere und Ältere offen für klimapolitische Veränderungen, sprechen sich für Akzeptanz gegenüber Transpersonen aus und verneinen, dass das Gendern ein wichtiger Beitrag zur Gleichstellung ist. Die Vorstellung, in den neuen Konfliktarenen ließen sich gesellschaftspolitische Verkeilungen der Generationen beobachten, ist nicht aufrechtzuerhalten. Auch zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund liegen einstellungsmäßig keine Welten, selbst nicht bei Themen wie Zuwanderung und Rassismus. Die vermeintlichen Gruppenunterschiede bleiben in den meisten Arenen schwach und sind keine starken Strukturgeber für Konflikte

Eine zerklüftete Konfliktlandachaft